Es war das Unglück des Mädchens, dass es durch die Reise nach Berlin, durch diesen Kinderstreich – von ähnlichen weiß wohl manche Geheimchronik aus besten Familien zu berichten, denen andere Mittel zur Verfügung standen als die Hilfe der Polizei, um ein Kind zu suchen und zu finden! – nachträglich sowohl bei der Polizei, die trotz aller Zeugnisse immer noch die Harmlosigkeit der Reise bezweifelte, als auch bei der Halbwelt bekannt geworden war. Als sie starb, stand sie wohl gerade an einem Wendepunkt, und es ist schwer zu sagen, ob sie von da an schnell in die Tiefe gezogen worden wäre, oder ob die Menschen, die ihren Charakter und ihre reiche Veranlagung kannten, bereit und fähig gewesen wären, ihr junges Leben zu retten.
Etwa zwei Wochen vor ihrem Tode sprach das Jugendgericht sie ihrem Elternhause zu in der Erkenntnis, dass sie keinesfalls zu den Verlorenen gehöre, und dass die Eltern Schutz und Aufsicht sein konnten. Die Verhandlungen waren ihr eine letzte seelische Qual. Sie betrachtete die amtlichen Frager als ihre Feinde, gegen die sie sich durch stolzes Schweigen wehren zu sollen glaubte. Eine Überführung ins Elternhaus konnte aber nicht sogleich stattfinden, da sie typhusverdächtig war. Als man dann einige Tage später erkannte, dass es sich nicht um eine ansteckende Krankheit handelte, brachte man sie den Eltern. Nach acht Tagen starb sie, am 1. Juni 1924.
An dem Original des Tagebuches wurde nichts geändert, natürlich mit Ausnahme sämtlicher Namen . Eine Verbesserung der Interpunktion und hie und da auch eines Schreibfehlers dürfte wohl nicht unter den Begriff Änderung fallen. Die Eltern gaben nur schweren Herzens ihre Zustimmung zur Veröffentlichung; aber wir glaubten ihnen die Versicherung geben zu dürfen, dass allen Lesern die Ehrfurcht vor der Schwere ihres Leides jedes ungütige und unnütze Fragen verbiete.
* * *
Das Tagebuch – Jahr 1922
20. Mai 1922
Noch ist ja die blühende, goldene Zeit,
o du schöne Welt, wie bist du so weit!
Und so weit ist mein Herz und so blau wie der Tag,
wie die Lüfte durchjubelt vom Lerchenschlag!
Ihr Fröhlichen singt, weil das Leben noch mait:
Noch ist die blühende, goldene Zeit,
noch sind die Tage der Rosen!
Ehe ich mich Dir anvertraue, liebes Buch, muss ich mich wohl erst vorstellen. –
Ich bin Margarete Machan, geboren am 27. Juli 1907 zu Magdeburg, Tochter des Schuhmachers Joseph Machan und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Schmitt.
So steht es im Stammbuch – und es ist auch so.
Ich bin 14 Jahre. Habe noch 4 Geschwister: Fritz – 12 Jahr, Annchen – 11 Jahr, Berni – 9 Jahr und Lotti 5 Monat. Außerdem wohnen hier in Neuburg unsere nächsten Verwandten, Großvater, Großmutter, Tante Grete, Tante Frieda und Onkel Paul. Tante Grete ist Plätterin, Tante Frieda Schneiderin, Onkel Paul Seefahrer. Alle ledig. Doch nein – Tante Frieda heißt Frau Mann, sie verlor ihren Gatten auf tragische Weise. Es rührt niemand daran. Onkel Paul will im März, holla – Ende Mai Hochzeit halten; er bekommt ein Mädchen mit krausem, dunkelblondem Haar zur Frau, die verspricht, eine tüchtige Lebensgefährtin zu werden. So meint Mama. Ostern verließ ich die Schule, um den großen Schritt ins Leben zu tun. Das sind die Worte unseres Geistlichen, Pastor Hamanns.
Jetzt besuche ich die Haushaltungsschule. Lerne rechnen, schreiben, lesen, Kinderunterhaltung, waschen, plätten und kochen. Am meisten lernt man Blödsinn, denn es sind Mädchen unter uns, die Liebesbriefe schreiben und erhalten von irgendwelchen Schülern. Dieselben stehen nach Schluss des Unterrichts an allen möglichen Ecken in der Nähe der Schule.
Marta Wieland ist die einzige mir Bekannte. Sie war meine Mitschülerin in der Schule. Wir sind die einzigen Katholiken. Das Essen, das wir brauen, ist wohl zu genießen, aber kaum stärkend für arbeitende Menschen. Aber der Begriff ist wenigstens da, wenn auch die Fettaugen fehlen. Unsere Lehrerinnen sind fast alle ältere Damen. Marta sagt, sie hätten den Anschluss verpasst. Sie wirken recht erzieherisch; ihr Anzug ist oft lächerlich, wie Marta findet. Alte Damen (Jungfern) bleiben in der Zeit und Mode, in der sie jung waren. Unsere alte Dame hat uns schon einen Vortrag über Liebe und Ehe gehalten und auch über Babypflege. Auf das Letztgenannte verstehe ich mich glänzend, denn wie oft habe ich unser kleines Lottchen baden und ankleiden müssen. Ich habe auch Mutti im Wochenbett gepflegt und den Haushalt geführt. Einmal habe ich Hasenbraten gemacht; Papa sagt, er habe ihm noch nie so gut geschmeckt; er wollte mich foppen, das merkte ich wohl. Geschmeckt hat er aber, das sage ich selbst und Herr Braun auch, der schon 2 Jahre bei uns wohnt und sonntags zu Tische isst. Herr Braun ist ein sächsisches Original.
Wir lernen in der Schule auch Puppenstuben-Anfertigung aus Papier, auch allerlei Spielzeuge. Alles in allem will man uns zu brauchbaren Menschen machen. Wir haben nur so viel Jugendübermut, und es ist schwer, uns zu zähmen. Aber Fortschritte machen wir.
In den freien Stunden gehe ich zu Schreibers in der Nordstraße.
Ein Puppenhaushalt, ich sah kaum so ähnliches.
Frau Schreiber ist eine ruhige, kränkliche, alte Dame und behandelt mich wie eine Tochter. Sie ist die Schwester von unserem Hausarzt.
Herr Schreiber, ein gemütlicher alter Herr, liebt seinen Garten über alles und umsorgt seine leidende Frau rührend. Sie haben ihren einzigen Sohn verloren, seitdem ist Frau Schreiber nervenleidend. Es ist sehr traurig. Ich helfe im Garten und Haushalt.
So, liebes Buch, das bin ich bis heute; was nun kommen wird, Freud oder Leid, das vertraue ich dir an. Ich will hoffen, nur Freude. Ich bin noch so jung und so dumm und werde wohl nichts Großes erleben. Die Welt ist so groß und so schön, ich liebe alles, was schön ist, Menschen, Blumen – die sehr, sehr. Auf dem Lande war ich in der Kriegszeit oft längere Zeit zur Erholung; ich liebe auch das Landleben und fühlte mich dort in Seckhaus sehr zu Hause.
Es war bei Horsts, ein moderner Bauernhof. Dort lernte ich reiten. Ich hatte die Pferde sehr gern. Herr Horst unterstützte immer meinen tollen Übermut. Er war musikalisch und lehrte mich das Klavierspielen. Jeden Morgen spielte er einen Choral, am Tage benutzte er jeden freien Augenblick zu Spiel und Lesen. Abends war es sehr harmonisch, dann saßen wir im „guten Zimmer“, und ich durfte üben. Frau Horst vertrat gänzlich Mutterstelle, und fast jedes Mal, wenn ich bei ihnen war, erblickte ein junges Menschenkind das Licht der Welt. Ich habe in meiner Kinderzeit viel kennen gelernt, was zum Leben gehört; Frau Horst sagte, das schadete nichts.
Auf dem Felde arbeitete ich mit, und das tat ich zu gern; die Kühe waren meine Freunde, und die Schweine! Ich liebe alles, was lebt, und bewundere es, weil alles so seltsam und die Natur so rätselhaft ist. Am meisten liebe ich aber Eltern und Geschwister. Papa ist ein lieber, lieber, guter Brummbär. Arbeitet von früh bis spät, pafft seine Pfeife und spielt jeden Sonnabend seinen gemütlichen Skat. Er liebt die Fischerei und seine Kaninchen neben uns. Mutti ist eben unsere Mutti, und ich kann mir keine bessere vorstellen. Sie nennt uns „ihre Welt“. Erst verstand ich das nicht, aber Horsts erklärten es mir, und seitdem verehre ich meine Mutti und will immer von ihr lernen. Herr Horst sagte, sie hätte ein Herz wie Gold und einen feinen Idealismus. Das ist ein Wort, das ich noch nicht ganz verstehe, aber das ist ja egal, es muss jedenfalls etwas sehr Gutes sein. Meine Geschwister liebe ich, und wir verzärteln und bewundern alle unser Nesthäkchen Lotti. Wir haben in der Haushaltungsschule einen „Tagebuch-Klub“ gegründet. Es sollen gegenseitig die Bücher ausgetauscht werden zum Lesen. Darum möchten wir recht viel schreiben, nur ich verstehe nicht so glänzend zu erzählen, aber so gut, wie irgend möglich, bringe ich wohl eine Erzählung zusammen, ohne mich lächerlich zu machen mit meinem Talent. Zu dir habe ich nun Vertrauen, liebes Buch, denn du bist schweigsam. Ich muss dich stets in Gewahrsam bringen, denn meinen Eltern und Geschwistern musst Du verborgen bleiben. Ich blamierte mich ja so tüchtig.
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