Ein solcher Twist geht gleich doppelt nach hinten los. Zum einen, weil die Leser darauf hoffen, der Twist möge einer sein, den sie noch nicht durchschaut haben. Zum anderen, weil der Protagonist in vielen Fällen sehr, sehr dumm aussieht oder seine Ignoranz sehr, sehr unglaubwürdig ist. Das alles beschädigt Ihren Roman massiv.
Unabdingbar für das Gelingen eines Twists ist seine Glaubwürdigkeit. Denn so entscheidend ein gelungener Twist ein Buch für den Leser aufwerten kann – das Davor, das Danach und den gesamten Roman –, so sehr kann ihn eine misslungene Riesenüberraschungaus der Bahn werfen und für den Leser verderben.
Mir hat der Midpoint-Twist in Vicki Petterssons Thriller »Hetzjagd« (Knaur 2016) den Roman verdorben. Darum geht es (Werbetext): Kristine ist mit ihrem Verlobten, dem Unfallchirurgen Daniel, auf dem Weg zu einer Familienfeier. Als sie in der Mojave-Wüste an einer verlassenen Raststätte haltmachen, ist Daniel plötzlich verschwunden. Nur sein Handy liegt noch auf dem Fahrersitz, und gleich darauf meldet sich ein Mann mit elektronisch verzerrter Stimme und erklärt Kristine, er würde Daniel zu Tode foltern, wenn sie nicht genau das täte, was er sage. Ein Alptraum nimmt seinen Lauf ...
Die Story bewegt sich sehr oft am Rand der Glaubwürdigkeit, sowohl in dem, was der unerkannte Täter von Kristine fordert, als auch darin, wie sie darauf reagiert. Ich hatte das Gefühl, einen Roman zu lesen. Ich blieb interessiert, aber distanziert. Das Gefühl, Teil der Geschichte zu sein, hatte ich an keiner Stelle. Und dann kam der Twist im Midpoint, in dem enthüllt wird, dass Kristines Verlobter Daniel selbst der vermeintliche Entführer ist.
Bullsh*t.
Mir fielen spontan ein Dutzend Gründe ein, warum ich das der Autorin nicht abkaufen konnte. Ganz offensichtlich hat sich die Autorin, kurz nach dem Welterfolg von »Gone Girl«, an den Trend dieser Art von Thrillern mit Mega-Twist in der Mitte angehängt. Der Unterschied zum Twist in »Gone Girl« jedoch ist, dass ich diesen Flynn absolut und zweifelsfrei abgekauft habe. Und wenn wir beim Abkaufen sind: Die Leser waren wohl derselben Meinung, denn »Hetzjagd« war kein Erfolg, obwohl der Twist scheinbar mindestens so gewaltig ist wie der von »Gone Girl«.
Für Sie heißt das: Lassen Sie sich von Ihren Twist-Ideen unbedingt hinreißen. Und anschließend hinterfragen Sie sie. Wenn es geht, testen Sie die Idee bei Freunden und Kollegen. Ein solch massiver Twist ist auf seine Glaubwürdigkeit angewiesen. Und je größer und wichtiger er für den Roman ist, desto zerstörerischer seine Wirkung, wenn er misslingt.
Was, nebenbei, noch ein Grund für Sie sein sollte, sich nicht allein auf Ihre tollen Twists zu verlassen, sondern einen auch sonst genialen Roman abzuliefern. Denn Glaubwürdigkeit ist leider weniger objektiv, als sie sein sollte.
Damit ein Twist insbesondere seine emotionale Wirkung entfalten kann, braucht er emotionales Futter. Das kann zum Beispiel ein Charakter sein, den der Leser mit der Zeit liebgewonnen hat, und über den Sie jetzt etwas Überraschendes enthüllen. Umgekehrt verfehlt ein Twist dann seine Wirkung, wenn Sie ihn mit zu wenig Emotionen aufgeladenhaben.
So wie der Twist in dem Kurzthriller »Sterben hat seine Zeit« von John Beckmann (in der Sammlung »Terminal 3« von Ivan Leon Menger). Darin wird eine Serienkillergeschichte aus mehreren Perspektiven erzählt. Einer der Erzählstränge ist der des Serienkillers, der in einem Flughafenterminal Koffer mit Frauenleichen abstellt. In diesem Strang begegnet der Leser auch, sehr am Rande, der Ehefrau des Killers. Der Sicherheitschef des Terminals trifft sich in einer Szene mit der Managerin einer Fluggesellschaft. Im Twist am Ende wird enthüllt, dass die Managerin (und das letzte Opfer) und die Frau des Killers ein und dieselbe sind.
Theoretisch ein gelungener Twist, der durchaus das Davor in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. Emotional wirkt er dennoch kaum, weil besagte Managerin in ihrer Rolle als Managerin und zuvor in ihrer Rolle als Ehefrau so gut wie nicht im Roman auftaucht. Mit der Folge, dass der Leser keine Beziehung zu dieser Frau, die er für zwei verschiedene Frauen hält, aufgebaut hat. Wäre diese Person als Charakter stärker in den Vordergrund gerückt worden, hätte der Twist den Leser sehr viel härter getroffen.
Schwierig machen Sie es Ihrem Twist auch dann, wenn Sie dem Leser zu oft die Beine wegziehen, wenn Sie also eine Wendung nach der anderenauf ihn loslassen. Damit entwerten Sie die einzelnen Wendungen, weil sie irgendwann nichts Besonderes mehr sind – und zu genau dem werden, was Sie vermeiden wollen: etwas Vorhersehbares zu schreiben.
Ein ähnlicher Knackpunkt sind Storys, die den Leser gar nicht erst Erwartungen aufbauen lassen, etwa wenn sie in allem zu originellsein wollen oder Ihre Charaktere für den Leser nicht greifbar machen.
So ging es mir mit Don Chaons literarischem Thriller »Der Wille zum Bösen« (Heyne 2018). Die Figuren darin tun dauernd etwas Unvorhersagbares, sodass ich sehr bald mit allem rechnete. Die Folge: Eine Überraschung konnte noch so groß sein, sie überraschte mich nicht. Sogar die Mega-Wendung am Ende des zweiten Akts (für Plot-Experten: nach exakt 75 % des Romans), bei der die Beteiligung einer der Hauptfiguren an den Morden offenbart wird, überraschte mich nicht. Weil ich zu dem Zeitpunkt längst alles für möglich und jeden für einen möglichen Täter hielt.
Ein erstes Indiz, ob dieser Knackpunkt auch in Ihrem Roman vorliegen könnte, liefert die sehr grundlegende Frage, wer überhaupt der Protagonist Ihres Romans ist. Eine Frage, die auch bei Don Chaon keine klare Antwort findet.
Manche Twists erscheinen Ihnen womöglich als höchst originell, sind in Wahrheit aber schon zum Klischee abgenutzt. Etwa der Ich-Erzähler eines Krimis, der sich am Ende selbst als Mörder offenbart. Was nicht nur ein abgedroschener Haufen Stroh ist, sondern zudem ein gewaltiger Bruch mit den Gepflogenheiten der Erzählperspektive, den Ihnen die Leser um die Ohren hauen werden. Ähnliches gilt für verschüttete Erinnerungen, die gerade rechtzeitig wieder auftauchen, um einen Twist zu verursachen.
Damit Sie das vermeiden, empfiehlt sich der Blick über den Tellerrand Ihres Romans ins eigene Genre und noch darüber hinaus.
Und: Je origineller Ihnen ein Twist erscheint, desto genauer sollten Sie prüfen, ob er glaubhaft ist. Originalität und Unsinn liegen häufig eng beieinander. Auch beim Schreiben überraschender Wendungen.
Bei all der Twisterei gilt: Konzentrieren Sie sich aufs Thema, den Plot und die Charaktere und betrachten Sie die überraschende Wendung als das, was sie sein soll: ein potentes Instrument, Ihren Roman zu stärken. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Twist dient dem Roman und dieser dient dem Leser.
Opfern Sie gerade die Besonderheiten Ihres Romans, eines Charakters oder der Herangehensweise ans Thema niemals einem Twist. Machen Sie mit der Wendung nicht all das ungeschehen, was den Lesern an Ihrem Roman bis dahin so gefallen hat.
Pamelas Traum in »Dallas« hat gleich eine ganze Staffel der TV-Serie ausgelöscht. Die Zuschauer haben mit Charakteren gelitten und über Ereignisse diskutiert, die dann keinerlei Bedeutung mehr hatten. Krasser können Sie Ihr Publikum kaum enttäuschen.
Ich bin zuversichtlich, dass Sie diese Klippe ab sofort umschiffen werden.
Teil 2
So schreiben Sie
überraschende
Wendungen
Let’s twist!
Überblick
Ob Sie einen großen Twist zum Midpoint oder am Ende des zweiten Akts planen (»Nein, ich bin dein Vater!«, eröffnet Darth Vader Luke Skywalker) oder ob Sie mit einem kleinen Twist einer Szene einen überraschenden Dreh verpassen wollen, das Vorgehen ist das Gleiche, sind doch die besten Szenen selbst Storys.
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