Dabei bleibt ein Twist ein Instrument, das Sie einsetzen können oder auch nicht. In manchen Genres wird er eher erwartet als in anderen, ein Muss ist ein Twist nie. Zwingen Sie ihn also weder Ihrem Roman noch Ihren Lesern auf.
Ganz ohne Wendungen kommt kein Roman aus. Sie zeigen Veränderungen und die Bedeutung des Ziels für den Protagonisten. Darüber hinaus erlauben sie ein intellektuelles wie emotionales Auf und Ab, das den Leser bei der Stange hält. Es liegt nahe, zumindest einem dieser Wendepunkte im letzten Drittel der Dramaturgie einen überraschenden Dreh zu verpassen.
Ein Twist soll Ihren Lesern ein eindringliches Erlebnis verschaffenund nicht Ihre Raffinesse zur Schau stellen. Für Twists gilt das gleiche wie für alle starken Stilmittel: Sie nutzen sich rasch ab. Bieten Sie Wendungen am Fließband, verlieren die einzelnen ihre Wirksamkeit. Sie nehmen sich gegenseitig Kraft und verwirren die Leser, bis sie nichts und niemandem in Ihrer Story mehr vertrauen.
Dagegen hilft Abwechslung. Das Prinzip »Cliffhanger am Ende einer Szene plus überraschender Auflösung in der nächsten« funktioniert nicht einen ganzen Roman hindurch. Wirkungsvoller ist es, wenn Sie stattdessen Art und Größe der Twists variieren.
Jeffery Deaver etwa begeistert seine Leser mit zwei großen überraschenden Wendungen im dritten Akt seiner Thriller. Dafür schreibt er, zumindest im Kopf, drei Storys.
Der alles verändernde Twist in der Hälfte von Gillian Flynns Thriller »Gone Girl« reicht in der Kategorie Mega-Twist für den ganzen Roman: Das Tagebuch der vermissten und für tot befundenen Amy war eine bewusste Manipulation, um ihren Mann Nick als Mörder hinter Gitter zu bringen. Amy geht es blendend. Eine kleinere Überraschung in jeder Szene (Nick wird von einem Ermittler einer Lüge überführt), eine größere alle paar Szenen (Nick hat eine Geliebte) – so etwas erfreut die Leserinnen ebenso wie die Leser.
Wenn ein Twist nichts als Selbstzweckist, kann er durchaus funktionieren. Aber eben nur als Überraschung. Im mehr auf Sensation setzenden Kino ist das effektiver und daher sinnvoller als im Buch. Wie etwa der Twist am Ende des Horrorschockers »Saw« (2004) zeigt, den Sie sich hier ansehen können: https://youtu.be/sxjlksJgq90?t=177.Der vermeintlich Tote, der den ganzen Film hindurch im Kellerverlies bei den beiden Hauptfiguren lag, war gar nicht tot. Sondern der Strippenzieher hinter all den Schrecken. Die Szene schockiert durchaus effektiv, mehr aber leistet sie nicht. Für die Story oder die Charaktere bleibt sie bedeutungslos. Mehr noch: Es gibt für den Schurken keinen überzeugenden Grund, die ganze Zeit dort zu liegen. Der Twist wurde allein für den Zuschauer geschrieben, in der Welt dieses Films ergibt er wenig Sinn.
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Als die Türklingel ertönt, fahre ich zusammen. Ich gehe im Kopf noch einmal meinen Plan durch, dann straffe ich meine Schultern und trete den Weg zur Haustür an. Mein Herzschlag ist so laut, er schallt durchs ganze Haus, bringt die Fenstergläser zum Klirren. Ich atme noch einmal tief ein und aus, dann öffne ich die Tür.
Viele Jahre hat mich das Monster bis in meine Träume verfolgt, und nun steht er vor mir. Gibt mir die Hand. Ich unterdrücke den Impuls, schreiend davonzulaufen, durchzudrehen. Ich darf nicht zögern, ich darf nicht zittern. Ich werde ihm in die Augen sehen, ich werde laut und deutlich sprechen. Das habe ich mir vorgenommen, darauf habe ich mich vorbereitet. Der Moment ist da, und jetzt, wo er da ist, wirkt er beinahe unwirklich. Ich drücke seine Hand.
(Es folgt eine detaillierte Szene über mehrere Seiten, in der der Besucher und Mörder der Schwester der Ich-Erzählerin die Ich-Erzählerin tötet. Dann folgt eine Leerzeile. Und so geht es weiter ...)
Ich bin nicht naiv. So könnte es kommen. Genau so oder ähnlich.
--«
(Melanie Raabe, »Die Falle«, btb 2015)
Die Autorin hat keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass sie die sehr detaillierte, einige Seiten lange Szene nur in ihrer Vorstellung durchlebt. Der Leser hatte keine Chance, diese Täuschung zu durchschauen – und fühlt sich deswegen zu Recht verschaukelt. Das ist ein billiger Trick auf dem gleichen Niveau wie die Bobby-Lüge aus »Dallas«. Auf einen Schlag verliert der Leser alles Vertrauen zu Ihnen, denn jedes weitere Wort kann ja ebenfalls eine Lüge sein. Dass Sie ihn täuschen, ist in Ordnung, das gehört zu einem spannenden Roman. Aber der Leser sollte das Gefühl haben, dass Sie ihn fair behandeln, und dazu gehören Hinweise, die zumindest im Nachhinein durchschaubar sind.
Ich habe nach dem obigen Ausschnitt das Buch weggelegt, auf Seite 38. Fairerweise muss ich sagen, dass viele Leser zumindest im Ergebnis anders denken oder zumindest weniger kritisch sind. Immerhin wurde der Roman ein Bestseller und in viele Länder verkauft. Sogar die Filmrechte hat sich eine Produktionsfirma aus Hollywood gesichert. Allen können Sie es nicht recht machen. Aber wozu Leser ohne Not verschrecken?
Umwerfende Twists wollen akribisch geplant sein (dazu unten mehr). Da erscheint es nur konsequent, dass ein erklärter Nicht-Plotter wie Stephen King nicht gerade für seine überraschenden Wendungen bekannt ist. Im Gegenteil. Nicht selten entpuppt sich ein Twist am Ende seiner Romane als an den Haaren herbeigezogen, unglaubhaft und letztlich emotional unbefriedigend. So schadet die Auflösung von »Die Arena« dem ganzen, davon abgesehen durchaus gelungenen Buch.
Darin wird eine amerikanische Kleinstadt unvermittelt unter einer unsichtbaren, unüberwindlichen Kuppel eingeschlossen. Von wem oder wozu, bleibt lange unklar. Nach der aufregenden Handlung und vielen, vielen, vielen Seiten finden die Protagonisten am Ende heraus, was die Kuppel wirklich ist. Wesen jenseits unserer Dimension haben sie geschaffen – um sich zu amüsieren. Die Einwohner von Chester’s Mill sind für sie, was Ameisen für menschliche Kinder sind: Hilflose Spielobjekte, die man quälen kann. Als zwei der Guten, Julia und Barbara, das begreifen, versuchen sie, zu diesen Wesen Kontakt aufzunehmen. Julia kann ihnen vermitteln, dass sie denkende und fühlende Geschöpfe sind. Daraufhin beseitigen die Aliens die Kuppel der Arena.
Das Ende funktioniert als Twist deshalb nicht, weil der Roman, abgesehen von der Kuppel, realistisch verläuft. Zudem streut King keinerlei Hinweise auf die wahre Ursache der Kuppel. Der Twist wirkt dadurch zufällig, auch jede andere Erklärung hätte herhalten können. Das Ende lässt den Leser trotz der spannenden Unterhaltung, je nach Typ, unbefriedigt, enttäuscht oder verärgert zurück.
Auch im letzten Band seiner »Der dunkle Turm«-Reihe zaubert King ein Kaninchen aus dem Hut, indem die erst am Ende auftauchende und mit keiner Backstory ausgestattete Figur des Patrick Danville den mächtigen Crimson King auslöscht – eine sehr zweifelhafte Lösung, was King selbst zugegeben hat.
Das alles ist nicht weit entfernt von der überraschenden Rettung des Helden durch eine Reiterschaft blauberockter US-Soldaten: der berüchtigte Deus ex Machina. Eine solche Kavallerie ex Machina ist per Definition nicht vorbereitet. Selbst im Nachhinein kann der Leser sie nicht nachvollziehen.
Alles in allem fühlt sich ein solcher Twist für den Leser fast immer unbefriedigend an. Auch verdient der Held sich sein gutes Ende nicht, weil er nichts oder zu wenig dafür getan hat, sondern die Arbeit der Kavallerie, dem Deus (Gott) oder dem Zufall überlassen hat.
Ein anderer, leider weit verbreiteter Fehler bei überraschenden Wendungen: Die meisten Leser sehen den Twist kommen oder erkennen die Wahrheit – nur der Protagonist schnallt es nicht. Ein Beispiel ist die erste Staffel der TV-Serie »American Gods« (2017), wo es für den Zuschauer fast von Beginn an klar ist, wer der geheimnisvolle Mister Wednesday tatsächlich ist. Falls er es nicht sofort kapiert hat, folgen eine Reihe von sehr offensichtlichen Hinweisen, die jeder mit einer Prise Kenntnis über nordische Mythologie (also jeder, der sich für die Serie interessiert) gleich versteht. Nur Protagonist Shadow blickt es auf keinem Auge (anders als Odin hat er ja zwei – was ein Hinweis auf die wahre Identität von Mister Wednesday war).
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