Flocke boxt mit ihrem Kopf gegen das Euter ihrer Mutter. Doller und doller. Ihr kleines Schwänzchen wackelt hin und her. Aber was machst du denn? Warum lässt du sie nicht trinken? Du blödes Schaf bist doch ihre Mama. Szenenwechsel. Katha und ich sitzen im Gras. Katha hält die Milchflasche in der Hand. Sie rechnet nicht mit der Wucht des zarten Lämmchens und fällt hintenüber. Sie lacht. So typisch laut. Flocke springt auf sie drauf. Und beginnt zu blöken. Määäh … määääh … määääh.
Das Geräusch drang immer dichter an mein Ohr. Bis ich schließlich davon erwachte. Doch es war noch immer da. Noch näher und noch lauter. Traum und Realität verschwammen ineinander. Ich sprang auf und lief nach draußen. Den aufkommenden Schwindel ignorierte ich. Mama und Hinnerk, unser Mann für alle Fälle, knieten neben den laut blökenden Schafen im Gras. Flocke lag auf Mamas Schoß. Überall war Blut. Auf Mamas Hose. An ihren Händen. In Flockes Gesicht.
„Die Krähen waren wieder da“, sagte Hinnerk mit zittriger Stimme und blickte mich vom Boden aus verstört an.
Sofort tauchten die Traumbilder von eben wieder auf. Und auch der Traum von neulich, von Frau Lüders fiel mir wieder ein. Das kann nicht sein, dachte ich. Mir wurde schlecht. Ich hielt es nicht mehr aus und lief los. Dieses Mal nicht in mein Zimmer. Ich rannte zu meinem Fahrrad und fuhr so schnell, dass ich kaum atmen konnte, Richtung Strand. Auf dem Deich ließ ich mein Rad fallen und taumelte nach Luft japsend zwischen den Dünen entlang, bis zu meinem Lieblingsplatz. Hier hatte ich oft mit Papa gesessen und die Wellen beobachtet. Die erste Zeit nach Papas Tod war ich oft allein hier gewesen. Meist hatte Peer mich gebracht und auf der anderen Seite des Deiches auf mich gewartet. Eine Weile hatte ich nicht mehr die Wellen beobachtet, sondern nur noch den Horizont. Den Ort, wo sich Himmel und Meer begegnen. Irgendwann hatte ich verstanden, dass ich Papa im Meer noch viel näher war und dass es eine doofe Idee gewesen war, das Wellenreiten aufzugeben.
Langsam beruhigte sich meine Atmung, nicht aber meine Gedanken. Verdammt, was war los mit mir? Ich weiß nicht mehr genau wann, aber plötzlich stand Katha neben mir.
„Hab ich mir doch gleich gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte sie ungewohnt leise und nahm mich ohne weitere Worte in die Arme.
Alles brach aus mir heraus. Ich heulte wie schon viele Jahre nicht mehr. Als ich mich beruhigt hatte, war ich so weit, Katha alles zu erzählen. Von den Träumen und davon, dass sie scheinbar im Zusammenhang mit den Todesfällen standen. „Träume ich, während sie sterben? Oder sterben sie, weil ich träume?“, fragte ich.
„Dann träum bloß nicht von mir“, platzte Katha heraus und sah mich entsetzt an.
„Da ist noch mehr“, fuhr ich fort. „Da sind immer wieder diese Erinnerungen, anders als die Träume. Die sind irgendwie – echt.“ Wie sollte ich die Bilder bloß in verständliche Worte bringen, wenn ich sie doch selbst nicht so richtig kapierte. „Ich sehe meinen Körper im Wasser, während des Unfalls. Dann stehe ich irgendwann vor Papa. Ich kann seine Gedanken fühlen . Und ich will unbedingt zu ihm, aber er schickt mich weg. Immer wieder.“ Ich machte eine Pause. Katha war meine beste Freundin so lange ich denken konnte, aber würde sie auch jetzt zu mir halten? „Ich glaube, ich war tot … oder so ähnlich.“ Mit diesen Worten schloss ich meine Erzählung. Wir schwiegen. Nur kreischende Möwen und das Rauschen des Meeres waren zu hören.
Katha schien nachzudenken. Schließlich sagte sie ganz ruhig: „ Ich glaube, das nennt man Nahtoderfahrung. Mare, das kann gut sein. Immerhin bist du fast ertrunken und musstest von Herrn Paulsen beatmet werden.“ Katha formte ihre prallen Lippen zu einem Kussmund und zwinkerte mir lasziv zu. Sie wurde immer hibbeliger. „Weißt du noch, das Spiel? Gläserrücken?“
Damals hatte ich nicht an die Kommunikation mit Toten geglaubt und es waren nur die Dunkelheit und unsere Phantasie gewesen, die uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatten. Und ein Teil von mir sträubte sich auch jetzt, das alles zu glauben. Obwohl es so real erschien.
Wir redeten und redeten bis die Sonne ganz und gar im Meer verschwunden war und wir am ganzen Körper bibberten. Vor Aufregung und vor Kälte. Der Wind hatte aufgefrischt. Vielleicht würde das Surfwochenende doch ganz okay werden. Ich war dank Kathas Hilfe jedenfalls bereit dafür.
Der diesjährige Saisonabschluss der Surfschule war für mich besonders wichtig, denn es sollte vorerst der letzte sein, an dem ich dabei war. Wenn alles gut ging, würden Katha und ich im nächsten Sommer unsere Abi machen. Katha hatte vor ein paar Wochen ihre Bewerbung an eine Schauspielschule nach Hamburg geschickt und wartete seitdem ungeduldig auf eine Antwort. Und auch für mich hieß es nach dem Abschluss Sachen packen: Sechs Monate Praktikum in einer Surfschule auf Bali warteten auf mich. Diesen Traumjob hatte mir Nils besorgt. Alle waren neidisch. Nur ich wusste noch immer nicht genau, ob es wirklich das Richtige für mich war, so lange so weit weg zu sein.
„Ach, ich komme dich zwischendurch sehr gern besuchen“, hatte Katha gesagt. Mehrmals. Und Peer hatte gemeint, es sei genau richtig für mich, mal Abstand von allem hier zu bekommen.
Da ich also höchstwahrscheinlich nächstes Jahr um diese Zeit auf Bali sein würde, hatte ich Nils immer wieder angebettelt, mich an diesem besonderen Wochenende arbeiten zu lassen. Irgendwann hatte er nachgegeben. Und meine Mutter hatte auch zugestimmt, schließlich würde ich ab Mittwoch auch wieder zur Schule gehen.
Wie neulich abends in den Dünen schon spürbar, hatten wir tatsächlich noch Wind bekommen. Zum Wellenreiten war es nicht optimal, sodass die meisten Besucher sich zum Kiten oder Windsurfen anmeldeten. Ich hatte mich diese und letzte Saison um das Wellenreit-Training der Kinder gekümmert. Und das tat ich auch an diesem Wochenende. Die Wellen waren eher klein und schwabbelig, doch zum Üben im flachen Wasser völlig ausreichend. Im Sand simulierten wir erst einmal die Bewegungen, die sie auf dem Brett machen würden. Ich zeigte ihnen, wie man sein Brett wachst und erzählte wichtige Dinge über Strand und Meer und Sicherheit. Als heute der dritte und letzte Tag zu Ende ging, schafften es ein paar Kinder sogar, eine kleine weiße Welle zu surfen. Ich spürte, dass ich genau das wollte und war mir für einen Moment ganz sicher, dass ich Bali schaffen würde. Mit diesem kribbeligen Gefühl im Bauch stand ich nun hinter der Bar und kassierte die Getränke, die Bine mixte. Katha tanzte mit ihrem „Sex on the Beach“ in der Hand und einem weit schwingenden, langen Rock im Sand vor dem Tresen. Obwohl es allmählich ziemlich frisch wurde, war die Atmosphäre super. Der Sonnenuntergangs-Himmel war genauso bunt wie die großen und kleinen Lampions, die wir rund um den Getränkestand aufgehängt hatten. Auf dem Schwenkgrill brutzelten Würstchen und Maiskolben, ein paar Kinder hielten auf Stäbe gespießte Marshmallows über das Feuer. Auf den Strandliegen hatten wir Decken verteilt – falls die im Sand steckenden Fackeln nicht genug Wärme spenden sollten. Und als Bob Marleys „Could you be loved“ aus den Boxen schallte, war ich so ausgelassen und glücklich wie nie.
Das Wochenende hatte mich abgelenkt, ich konnte die Erlebnisse der vergangenen zweieinhalb Wochen gut wegschieben. Ich hatte keine weiteren Träume und neue Todesfälle gab es auch nicht zu verzeichnen.
Doch als ich heute Morgen in der Schule ankam, überfiel mich alles wie eine Monsterwelle. Natürlich wollten meine Mitschüler erfahren, was genau passiert war. Ob es stimmte, dass ich fast gestorben wäre. Hätte Katha nicht die meisten Fragen beantwortet oder die dämlichen Sprüche abgewehrt – ich wäre nach Hause geflohen. Vielleicht wäre das sogar sinnvoller gewesen, denn wirklich am Unterricht teilnehmen konnte ich nicht. Mein Kopf schien zu platzten vor wirren Gedanken und ungeklärten Fragen.
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