In die Freundebücher, die ich während der Grundschulzeit mit nach Hause bekommen hatte, trug ich bei Sternzeichen immer Meerjungfrau ein. Schon früh hatten die Wellen mich angezogen. Im Wasser fühlte ich mich zu Hause. Und daran hatte sich bis heute nicht das Geringste geändert. Ganz im Gegenteil.
Ziemlich erschöpft (vielleicht erschöpfter als wäre ich mit dem Rad gefahren), aber gut durchlüftet, erreichte ich das Haus von Herrn Paulsen. Es lag nur ein paar Meter hinter dem Deich, gleich neben Aal-Andis Räucherstube. Ich liebe den Geruch von geräuchertem Fisch, auch frühmorgens. Dass mir plötzlich übel wurde, musste also an meiner Aufregung liegen. Ich schämte mich so wegen des Unfalls und hatte außerdem Angst, Herr Paulsen könnte wütend auf mich sein. Mich anbrüllen, dass ich zu blöd zum Surfen wäre. Zu gern hätte ich jetzt Katha an meiner Seite gewusst. Sie hätte irgendetwas Aufmunternd-Albernes gesagt und mich damit wenigstens ein klein bisschen abgelenkt. Doch im Gegensatz zu mir hockte sie jetzt im Physikunterricht von Herrn Siemers. Obwohl Physik im Allgemeinen und Energieentwertung im Speziellen absolut nicht zu meinen Favoriten zählten, hätte ich jetzt zu gern mit ihr getauscht.
Zögerlich drückte ich auf den Klingelknopf, wartete einen winzigen Moment und wollte gerade wieder verschwinden, da öffnete sich die Tür.
„Mare? Das ist ja eine Überraschung“, sagte Herr Paulsen und sah mich fragend an. „Wie geht’s dir?“
Erleichterung breitete sich in mir aus. Was hast du denn geglaubt? Dass er dir den Hals umdreht? Das hätte er neulich auch einfacher haben können , hörte ich Katha schon sagen, wenn ich ihr nachher davon berichten würde.
„Hallo … ja … ähm, mir geht’s schon wieder ganz gut“, stotterte ich. Dann fing ich mich etwas. „Deshalb bin ich auch hier. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mich ...“, ich atmete tief ein und zum ersten Mal wurde mir schlagartig bewusst, wie ernst die Situation gewesen war, „ ... dass Sie mich gerettet haben.“
Herr Paulsen schwieg. Schnell drückte ich ihm den Fresskorb in die Arme. „Als Dankeschön.“ Noch immer sagte er nichts. Aber wenigstens kramte er zwischen selbst gekochter Himbeermarmelade, Käse aus Schafsmilch und Sanddornlikör herum und lächelte. Schließlich setzte er sich auf eine der Treppenstufen und bot mir den Platz neben sich an. Er erzählte mir von dem Morgen. Von seiner frühmorgendlichen Jogging-Runde am Strand. Von dem Moment, als die Welle mich nach unten zog, aber nicht wieder freigab. Von seinem schnellen Entschluss. Und von der Erste-Hilfe-Aktion.
Ich knetete meine Hände. Irgendwann sagte ich leise: „Tut mir leid, dass ich Sie in so eine Situation gebracht habe.“
Herr Paulsen legte mir seine Hand auf die Schulter. „Die Hauptsache ist, dass es dir wieder gut geht.“ Dann stand er auf. „Jetzt muss ich aber zur Arbeit. Pass auf dich auf, Mare.“
Nach diesem Gespräch konnte ich auf keinen Fall einfach zurück nach Hause laufen, und so entschied ich mich, in der Surfschule vorbeizugucken.
In der Saison vor meinem 15. Geburtstag hatte Nils mich gefragt, ob ich neben der Schule bei ihm jobben wollte. Nils und Papa waren beste Freunde gewesen und hatten kurz nach Peers Geburt gemeinsam die kleine Surfschule aufgebaut. Sie kannten sich von Papas unzähligen Besuchen an der Küste. Dutzende Male hatte Nils ihn angefleht, fest mit einzusteigen. Doch Papa war klar gewesen, dass er mit Mama zusammen den Hof von Oma übernehmen würde. Mein Vater war zwar wegen der Liebe zum Wellenreiten gekommen, blieb aber wegen der Liebe zu meiner Mutter. Den Spagat zwischen Land und Meer hatte er immer gut hinbekommen und seine Leidenschaft war früh auf mich übergeschwappt. Kurz nachdem ich schwimmen gelernt hatte, stand ich das erste Mal auf dem Brett.
Jetzt war es kurz nach zehn, die Surfschule hatte gerade geöffnet. Ich sah Nils und die anderen schon von Weitem. Trotz seiner 49 Jahre passte Nils perfekt in das Bild, das die meisten Leute von Surfern haben: salzwasserblonder Wuschelkopf, leicht gebräunte Haut, durchtrainierter Körper, immer guter Laune.
„Guten Morgen!“, rief ich ihnen zu. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da hatten sich alle um mich versammelt. Drückten mich herzlich, sprachen wild durcheinander – stellten aber keine blöden Fragen. Nils und seine Freundin Bine hatten mich bereits im Krankenhaus besucht und ich war mir sicher, dass sie die anderen über alles informiert hatten.
„Schön, dass du da bist. Wir fangen grad an, den Saisonabschluss vorzubereiten“, begrüßte mich Nils und schob leicht zerknirscht hinterher: „Der dieses Jahr wohl ohne dich stattfinden muss.“
So ein Mist! Das hatte ich völlig vergessen. Durch den Feiertag am 3. Oktober und den Brückentag vorher stand ein langes Wochenende an, an dem zum letzten Mal in diesem Jahr einige Besucher kommen würden und die Abschluss-Party stattfinden sollte. „Das schaffe ich schon“, meinte ich. „Und da ich schon mal da bin … kann ich irgendwie helfen?“
Nils lachte laut und legte seinen Arm um mich. „Mare, Mare, deine Mutter weiß sicherlich nicht, dass du hier bist, oder?“
„Hallo? Ich bin 19! Kann ich bitte auch mal selbst entscheiden?“, motzte ich.
Nils zwickte mich in den Arm. „Bine bereitet auf der Terrasse ihre Yoga-Stunde vor, da kannst du ein bisschen helfen“, sagte er und brach in noch lauteres Gelächter aus.
Sehr witzig, dachte ich. Alle hier wussten, dass Surf-Yoga nicht so meins war. Doch bevor ich mich nach Hause schicken ließ, antwortete ich übertrieben freundlich: „Klaro, sehr gerne.“
Die nächsten zwei Tage verliefen ganz ähnlich. Vormittags half ich in der Surfschule bei so wichtigen Dingen wie Regale auswischen. Um unnötigem Stress mit Mama aus dem Wege zu gehen, erzählte ich ihr lediglich von ruhigen Ausflügen zum Strand. Nachmittags kam Katha vorbei, um mich abzulenken und mir Schulsachen zu bringen. Surfen sollte ich laut Doktor Peer noch nicht, was nicht dramatisch war, da es seit meinem Unfall sowieso keine guten Wellen mehr gegeben hatte. Ich hoffte, das würde sich bis zum Wochenende noch ändern und wollte mich wenigstens etwas darauf vorbereiten.
Ich befestigte meine Slackline zwischen den Kirschbäumen im Garten. Darauf zu balancieren machte nicht nur extremen Spaß, die Übungen waren zudem ein gutes Gleichgewichtstraining für das Wellenreiten. Zu meiner Überraschung brauchte ich heute ein paar Anläufe bis das elastische Band mich nicht mehr unkontrolliert zappeln ließ. Doch je mehr meine Gedanken verstummten, desto besser konnte ich mich auf die Bewegungen einlassen. Und plötzlich tauchten sie wieder auf, diese unbegreiflichen Bilder. Ich hatte sie vergessen oder wahrscheinlich eher verdrängt, doch jetzt waren sie wieder da, deutlicher denn je. Dieses Mal konnte ich sie festhalten – bis Mama plötzlich hinter mir stand und mich mit einem schrillen „Was macht du denn da?“ zu Fall brachte. Wie ein kleines Mädchen, das schokoladenverschmiert auf dem weißen Teppich erwischt wurde, rannte ich in mein Zimmer. Ich konnte jetzt nicht mit ihr reden. Auf keinen Fall. Selbst als Katha am Nachmittag wieder zu Besuch kam (das hatte sie für die ganze Woche geplant), schaffte ich es nicht, ihr davon zu erzählen. Das sollte mir erst am nächsten Tag gelingen.
Da Mama über das lange Wochenende zwei Familien erwartete und Renate, ihr einziges Zimmermädchen, krank war, hatte sie mich tatsächlich um Hilfe auf dem Hof gebeten. Das machte sie äußerst selten und auch in diesem Fall war es sicherlich nur ein Vorwand, um mit mir reden zu können. Doch ich gab ihr zu verstehen, dass ich keinen Bedarf hatte. Nicht jetzt. Ich bezog den ganzen Morgen Betten, saugte Staub und putzte die Bäder. Am Mittag merkte ich, dass dieses „von null auf hundert“ vielleicht doch etwas viel war und legte mich für ein Schläfchen aufs Sofa. Wie an dem Tag meiner Krankenhausentlassung schlief ich sofort ein – und wieder träumte ich.
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