„Ja. Ich weiß nicht, wie du das jetzt aufnimmst… Aber ich dachte, du solltest wenigstens wissen, wo dein Großvater beerdigt liegt.“
Mein Großvater… Es war ein merkwürdiger Gedanke, jetzt hier gewissermaßen vor ihm zu stehen, hatte ich schließlich so selten an ihn gedacht. Wenn ich mir Gedanken über die Eltern meiner Eltern gemacht hatte, dann höchstens über Maylas und meinen gemeinsamen „Großvater“ John. Über die Eltern von meinem Dad wusste ich eigentlich nichts, nur dass sie seit Jahrhunderten tot waren, aber nie hatte ich wirklich darüber nachgedacht, dass John ja gar nicht wirklich Moms Vater war, sondern nur der Mann ihrer Mutter… Dass ich noch einen anderen, leiblichen Großvater gehabt hatte, wusste ich zwar, aber ich hatte mir wenigstens bis jetzt noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht.
Deshalb stand ich jetzt auch hier vor dem Grab meines Großvaters und hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich mich eigentlich fühlte oder fühlen sollte.
„Danke“, flüsterte ich leise, nachdem wir einige Zeit geschwiegen hatten. Auch wenn ich mir noch nicht sicher war, was ich meinem toten Opa gegenüber empfand, so war ich doch dankbar, dass ich überhaupt die Gelegenheit hatte, mir darüber Gedanken zu machen.
Ich hatte mich schon immer für meine Familiengeschichte und generell für alle Personen in meiner Familie interessiert, selbst für diejenigen, die schon lange tot waren. Schon als ich noch ein kleines Kind war, hatte ich Mom regelmäßig über dieses Thema ausgequetscht. Na ja, normal war ich eben noch nie gewesen.
„Du findest es nicht… schräg?“, fragte Mayla leise neben mir.
„Ein bisschen vielleicht, doch“, gab ich zu. „Aber ich bin auch irgendwie froh, dass ich mal bei seinem Grab war. Auch wenn ich ihn nie kennengelernt habe, ich finde es trotzdem gut, dass ich jetzt wenigstens weiß, wo genau er beerdigt wurde. Und auch wenn ich vermutlich nicht mehr hierherkommen werde… Es tut irgendwie gut zu wissen, dass es in dieser Stadt noch etwas gibt, was mich an Mom erinnert.“
Erleichtert atmete Mayla leise auf und schwieg ansonsten einfach, sodass ich mich lächelnd wieder zu ihr umdrehte.
„Wir sollten wohl langsam nach Hause gehen“, meinte ich mit immer noch gesenkter Stimme und sie nickte stumm.
Kurz darauf standen wir wieder in unserem Haus, das Auto hatten wir letztendlich einfach bei Isabel stehen lassen. Wir würden es auch noch morgen abholen können.
Ich wünschte Mayla schnell eine gute Nacht und lag nur ein paar Minuten später in meinem neuen Bett. Nur dass ich mich die ganze Zeit hin und her wälzte, weil meine Gedanken immer wieder um unseren Umzug, um Isabel und um Jeffrey kreisten.
Irgendwann schaffte ich es aber mit den Gedanken an meine wahre Familie doch noch, mich zu entspannen, und so waren leise, tapsende Schritte auf dem Flur das letzte, was ich hörte, bevor ich endgültig einschlief.
Leise schlich ich durch den Wald am Stadtrand von Magic Spring. Es war dunkel, nur der Halbmond erleuchtete ganz schwach den Weg vor mir. Jeder normale Mensch hätte kaum etwas sehen können, aber dank eines kleinen Zaubers war es für mich kein Problem, mich beinahe lautlos auf den Blättern fortzubewegen.
Ich wusste nicht, wieso genau ich eigentlich hier war und was ich überhaupt suchte, aber ich wusste, dass etwas Wichtiges passiert war. Irgendjemand war neu nach Magic Spring gekommen, jemand Mächtiges, das spürte ich genau. Es war Jahre her, dass ich so etwas erlebt hatte. Es musste ein Vampir sein, sonst hätten meine Hexensinne ihn nicht bemerkt, aber er war stärker und mächtiger als alles, was ich zuvor gespürt hatte. Und das sollte schon etwas heißen. Schließlich waren so ziemlich alle meine Freunde Vampire. Isabel, Samantha, die beiden Oscure-Zwillinge. Unsere gesamte Clique bestand eigentlich nur aus Vampiren und mir. Und ich hatte schon mit ihnen gegen die Ersten gekämpft, aber selbst bei ihnen hatte ich nie so eine starke Macht gespürt wie die, die sich gerade eben erst entwickelt hatte. Irgendjemand, oder eher irgendetwas, war hierhergekommen. Etwas unglaublich Mächtiges. Es war eine potenzielle Gefahr für die Stadt und ich musste ihr auf den Grund gehen und wenn möglich beseitigen, bevor sie überhaupt handeln konnte.
Es war meine Aufgabe, die Menschen von Magic Spring zu beschützen. Und dieses Wesen, was jetzt neu hergekommen war, hatte vermutlich die Macht, ganz Magic Spring innerhalb von Minuten auszulöschen.
Ich folgte meinem Gefühl und hob einen relativ spitzen Ast vom Boden auf, als ich mich der Quelle dieses Gefühls näherte. Ich suchte Deckung hinter den Bäumen und schlich mich langsam an das neue Wesen an, auch wenn ich es noch nicht erkennen konnte.
Ich hörte ein leises, gleichmäßiges Atmen, als würde diese neue Person schlafen und sah vorsichtig hinter dem Baum hervor, um sie besser erkennen zu können. Tatsächlich lag jemand auf dem Waldboden, vollkommen ungeschützt, und zeigte keine Reaktion auf meine Anwesenheit. Ich schlich ein wenig näher auf die Person zu, den Ast in meiner Hand schützend vor mich haltend und immer auf die Fremde vor mir gerichtet.
Als ich jedoch vor ihr stand und in das graue Gesicht von dem hilflosen Mädchen sah, wusste ich sofort, dass ich falsch gelegen hatte. Von ihr ging keine Gefahr aus, mein Gefühl hatte mich getäuscht. Sie war zwar mächtig, aber ich fühlte, dass sie definitiv nicht gefährlich war. Und es war nicht nur das Gefühl, ich war mir einfach vollkommen sicher. Dieses Mädchen war keine Gefahr für die Stadt. Ganz im Gegenteil.
Innerhalb von ein paar Sekunden beschloss ich, dass dieses Mädchen vor mir es nicht verdient hatte zu sterben, ob sie jetzt die mächtigste Kreatur der Welt war oder nicht. Ich würde sie auf keinen Fall töten, das konnte ich gar nicht.
Nein, sie war mit Sicherheit keine Gefahr für Magic Spring. Und ich würde sie auch nicht einfach hier liegen lassen. Nein, ich würde sie retten und an einen sicheren Ort bringen. Und ich würde ihr helfen, sich hier einzufinden und sich zu regenerieren. Das war das einzig Richtige, was ich tun konnte. Ich spürte es, ich wusste es. Ich kannte sie.
Also warf ich den provisorischen Pfahl weg und hob stattdessen das Mädchen auf meine Arme, bevor ich wieder in die Dunkelheit verschwand, aus der ich gekommen war.
Und so beschäftigt mit dem Mädchen auf meinen Armen bemerkte ich nicht, dass nur ein paar Meter weiter im Schatten der Bäume ein weiteres Mädchen lag, das von all dem nichts mitbekam, während ich wieder in die Sicherheit der Stadt verschwand.
Ich wachte auf von einem markerschütternden Schrei, der aus der Richtung des Waldes kam und einer kurz darauf folgenden Welle der Macht. Sofort sah ich zu Mayla, die ebenfalls gerade neben mir aufwachte. Anscheinend war sie gestern Nacht doch noch zu mir gekommen, als sie nicht schlafen konnte. Irgendwie hatte ich schon so etwas erwartet.
„Phil! Hast du das gerade auch gespürt?“, fragte sie mich verschlafen.
„Ja. Was war das?“
„Keine Ahnung…“, murmelte sie. „Als ob eine Hexe irgendwo in der Nähe die Kontrolle verloren und einen Wutanfall bekommen hätte…“
„Mitten im Wald um…“ Ich sah kurz auf die Uhr und dann wieder skeptisch zu Mayla. „Um sechs Uhr morgens?“
„So hat es sich jedenfalls angefühlt, findest du nicht? Und außer Wald ist hier so gut wie nichts. Vielleicht wohnt ja eine Hexe in der Gegend… Es ist ja ziemlich abgelegen und wenn man Ruhe sucht, ist hier eigentlich der perfekte Ort dafür.“
„Ja, stimmt…“, gab ich meiner Cousine recht. „Es ist trotzdem merkwürdig. Welche Hexe verliert schon so früh die Kontrolle und ist dabei noch so mächtig, dass wir das bis hierhin mitbekommen?“
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