„Was? Nein! Wie kommst du denn auf so eine Idee?“, widersprach ich ihr sofort. Wieso sollte es Maylas Schuld sein? Sie konnte da doch am wenigsten für.
„Doch, natürlich. Die Töchter der Natur waren damals nur wegen mir da. Sie wollten nur mich, nie irgendjemanden sonst aus unserer Familie. Ich war der einzige Grund für ihre Anwesenheit und deshalb bin ich auch schuld an Tante Annis Tod.“ Mit diesen Worten drehte sie sich wieder um und ging mit festen Schritten weiter in Richtung Stadtinneres und ich folgte ihr sofort.
Sobald ich sie mit schnellen Schritten eingeholt hatte, sah ich sie im Gehen von der Seite an und meinte: „Aber du hättest es auch nicht verhindern können. Was hättest du auch tun sollen? Dich selbst opfern?“
„Zum Beispiel“, sagte Mayla nur, auch wenn ich das eigentlich nicht ernst gemeint hatte.
„Du warst sieben, Mayla. Sieben Jahre alt. Niemand kann von dir verlangen, dich selbst zu opfern, wenn du noch ein Kind bist. Außerdem wusstest du nicht einmal, dass Mom sich umbringen wollte. Niemand wusste das, bis es zu spät war.“
„Trotzdem… Wenn ich gleich zu Zoë gegangen wäre, sobald klar war, dass sie nur mich wollte… Wenn ich mich einfach umgebracht hätte… Es wäre nie so weit gekommen, dass Tante Anni entführt worden wäre. Sie wäre nie mit Zoë verbunden worden und hätte nie sterben müssen. Ich hätte das alles verhindern können.“
„Du weißt nicht, was passiert wäre, das kannst du nicht wissen. Es wäre gut möglich, dass Zoë nicht bei dir aufgehört hätte. Das ist sogar extrem wahrscheinlich. Als nächstes hätte sie mich angegriffen und danach unsere komplette Familie. Wir hätten nie Ruhe vor ihr gehabt, dafür war sie einfach viel zu psychopathisch und besessen von uns. Und selbst wenn es etwas verändert hätte, zu dem Zeitpunkt hattest du noch keine Ahnung, was alles passieren würde. Du dachtest, dass wir einen Ausweg finden würden, mit dem wir die Töchter besiegen und unsere Familie unverletzt behalten können. Und nicht nur du hast das gedacht, wir alle dachten das. Einschließlich meiner Mom. Keiner von uns hätte es ertragen können, wenn du gestorben wärest und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns dann an Zoë gerächt hätten, sodass dieser Kampf letztendlich das gleiche Ende gefunden hätte, wenn nicht sogar ein schlimmeres. Auch wenn ich es nicht gerne sage, Moms Tod war wohl im Vergleich zu anderen Auswegen das kleinste Übel.“
„Danke“, murmelte Mayla leise und ich sah sie fragend an.
„Wofür?“ Ich hatte schließlich nichts gemacht.
„Dafür, dass du mich nicht hasst.“
„Könnte ich nie. Du bist doch meine Lieblingscousine“, lächelte ich sie leicht an. „Und? Wohin gehen wir gerade eigentlich?“ Wir waren schließlich nicht auf dem Weg nach Hause, wie ich erst jetzt bemerkte.
„Zum Friedhof“, lautete ihre Antwort nur und ich blieb vor lauter Überraschung unwillkürlich stehen.
„Was?“, fragte ich nach. Hatte sie gerade wirklich Friedhof gesagt?
„Zum Friedhof von Magic Spring“, wiederholte sie aber nur, während sie einfach weiterging, sodass ich ihr schnell wieder nachlief.
„Okay… Und wieso?“
„Das wirst du dann schon sehen“, meinte meine Cousine nur geheimnisvoll und ich verdrehte leicht die Augen. Konnte sie es mir nicht auch einfach sagen? Sie wusste doch, wie neugierig ich immer war. Ich hasste Überraschungen.
„Du weißt, dass unser Auto immer noch vor Isabels Haus steht?“, fragte ich sie also, hauptsächlich nur, um mich abzulenken.
„Ja, das weiß ich. Aber wir können es ja nachher noch wieder mitnehmen. Oder morgen, aber das ist auch ziemlich egal.“
Ich seufzte nur leise und lief weiter neben ihr her. Sie schien erstaunlich gut zu wissen, wie man zum Friedhof kam. „Seit wann kennst du dich hier so gut aus?“
„Ich hatte eh vor, mal mit dir dort hinzugehen, also habe ich den Weg schon früher rausgesucht. Aber ich denke, einen sehr viel passenderen Moment als jetzt gerade wird es wohl nicht geben“, erklärte Mayla.
„Könntest du bitte aufhören, so mysteriös zu sein und mir einfach sagen, was wir auf dem Friedhof von Magic Spring wollen?“, bat ich sie so freundlich wie möglich, als ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten konnte.
„Das könnte ich, liebster Cousin, ja. Aber es ist einfacher, wenn du es selber siehst, wir sind ja bald da.“
„Wieso ist es einfacher, wenn ich es selber sehe? So schwer zu erklären kann es doch jetzt auch nicht sein…“, hakte ich weiter nach, doch sie schüttelte nur leicht grinsend mit dem Kopf.
„Ich will dir einfach was zeigen, Phil, okay? Vielleicht ist es auch eine ziemlich blöde Idee von mir und vielleicht bist du danach auch total… merkwürdig drauf und vielleicht verlierst du auch kein Wort mehr darüber, aber ich denke einfach, dass ich es dir zeigen sollte. Du hast ein Recht darauf.“
„Und worauf genau? Mayla! Das, was du sagst, ergibt ja vielleicht für dich Sinn, aber für mich überhaupt nicht. Was willst du mir auf einem Friedhof zeigen?“
Klar, vermutlich irgendein Grab oder so. Das wäre jedenfalls das, was am nächsten läge. Aber ich kannte doch niemanden in Magic Spring und bis auf meine Mom und mein Dad, den ich nie kennenlernen durfte, waren doch alle noch am Leben, die mir etwas bedeuteten. Und meine Eltern waren mit Sicherheit nicht hier begraben, ich war schließlich schon oft an ihrem Grab in New Orleans gewesen.
„Das siehst du jetzt gleich schon. Wir sind da.“
Ich sah mich auf dem Friedhof von Magic Spring um, konnte aber nicht wirklich etwas Besonderes entdecken. Nur das, was man eigentlich auf jedem Friedhof finden konnte: Halb vertrocknetes Gras, hässliche Engelsstatuen, die vermutlich Trost spenden sollten oder so, und alle möglichen Grabsteine. Jeder aus einfachem Stein, einige so vermodert, dass man die Namen darauf nicht mehr erkennen konnte, während vor anderen noch frische Blumen lagen. Nichts Besonderes also und im Vergleich zum Lafayette Cemetery in New Orleans wirklich winzig. Ich musste es wissen, ich war schließlich ziemlich oft dort gewesen, beim Grab von meiner Mom und meinem Dad.
Es war eine merkwürdige Stimmung. Friedhöfe waren generell immer ruhig, aber wir waren wirklich die Einzigen, die jetzt gerade noch hier waren. Und ich hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, was Mayla eigentlich mit mir hier wollte.
Langsam griff sie nach meiner Hand und zog mich dann in eine bestimmte Richtung, beinahe so, als wäre sie schon einmal hier gewesen. Aber so, wie ich sie kannte, hatte sie einfach nur irgendeinen Zauber gefunden, der dafür sorgte, dass sie genau wusste, wo wir hinmussten.
Wir verloren kein weiteres Wort mehr, alles andere wäre wohl respektlos gewesen, und bewegten uns automatisch lautlos über das braune Gras, damit es weiterhin so still blieb. Selbst unser Atem war leiser als normalerweise.
Im Vorbeilaufen sah ich auf die Namen der verschieden Grabsteine. Iona und Kevin Fillman. Victoria und James Brown. Lucas Obenhurpfl. Toller Name.
Ich konnte jedoch nicht weiter darüber nachdenken, weil wir schon kurz darauf anhielten. Neugierig sah ich auf die Grabsteine vor uns und sah dann fragend zu Mayla.
Das waren alles Gräber von der Familie Dean. Mir war zwar schon aufgefallen, dass hier alle bei ihrer Familie beerdigt wurden, aber es war dennoch merkwürdig, so vor allen möglichen Vorfahren von mir zu stehen, von denen ich meistens nicht mal die Namen kannte. Was wollte Mayla damit bezwecken?
Unsicher sah sie mich an und deutete dann auf einen Grabstein. Ich folgte ihrem Blick und sah dann nur auf den Namen, der darauf stand. Jeffrey Dean.
„Moms Vater“, flüsterte ich leise. Ich wusste nicht, was ich jetzt gerade fühlen sollte. Ich hatte ihn nie kennengelernt, er war vor meiner Geburt gestorben und selbst Mom hatte ihn nie so wirklich gekannt.
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