„Danielle“, erwiderte sie. „Aber das wissen Sie ja schon. Ja, sprechen wir uns mit den Vornamen an – das ist zwangloser.“ Vom „du“ sagte sie nichts und auch ich ließ es besser bleiben.
Wir studierten die Speisekarten und wählten aus, was wir essen wollten. Es gab ein Fünf-Gänge-Menü, bei dem man bei der Hauptspeise und dem Dessert zwischen zwei Angeboten wählen konnte. Wir bestellten, als der Kellner wiederkam, als Vorspeise Vitello tonnato, dann die Spargelcremesuppe, einen Eier-Auflauf à la portugaise als Zwischengericht, beide Heilbutt mit Zitronen-Orangen-Dressing als Hauptspeise und Gebackenes Dessert mit schwarzen Kirschen als Abschluss.
„Ich sehe schon, wir haben den gleichen Geschmack“, lächelte meine Begleiterin. Ich hoffte das ja auch, aber wusste nicht, ob es mit uns beiden etwas würde.
Das Restaurant füllte sich allmählich. Mit unserem Zweiertisch hatten wir großes Glück gehabt, denn die meisten Tische waren für vier, sechs, acht oder sogar zehn Gäste vorgesehen. Man weiß da nie, mit wem man zusammensitzt. Es kann gut gehen und man hat nette Tischnachbarn. Manchmal hat man aber auch die Brunnenpest mit am Tisch.
Die kam gerade in Begleitung unseres Kellners an den Nebentisch gestiefelt – es war der „Loser“. Er nickte uns zu und nahm am Vierertisch Platz. Kaum hatte er sich hingesetzt, brachte der Kellner auch noch zwei weitere Gäste zu ihm. Es waren Herr Nimmer und Frau Nimmer-Oede. Als sie den Hageren dasitzen sahen, verzogen sie ihre Gesichter, als hätten sie in etwas Saures gebissen. Aber sie rissen sich gleich wieder zusammen, warfen uns beiden ein freundliches „Guten Abend“ und dem „Loser“ einen resignierten Blick zu, ehe sie sich zu ihm setzten. Ich an ihrer Stelle hätte ja beim Kellner sofort protestiert, aber nicht jeder ist so schnell auf Krawall gebürstet wie ich.
„Was macht Ihr Kopf?“, wollte Danielle wissen.
„Er ist noch dran!“, sagte ich. Mehr nicht. Obwohl er noch schmerzte. Aber die Schürfwunden hatten sich geschlossen.
„Ist das Ihre erste Kreuzfahrt, Tom?“, fragte sie dann.
„Nein – die siebente oder achte schon. Ich war mit mehreren Anbietern schon unterwegs. Mit AIDA, Mein Schiff, Costa, Hapag Lloyd. Und jetzt eben mit Bella Cruises.“
„Und mit wem hat es Ihnen bisher am besten gefallen?“
„Das kann man so nicht sagen“, winkte ich ab. „Die einen haben ein besseres Unterhaltungsprogramm an Bord, andere punkten mit All-Inklusive, manche mit dem guten Essen, die einen machen Galaabende, da sollte man einen schwarzen Anzug und eine Krawatte im Koffer haben. Andere tun das nicht. Beim Aufenthalt auf großen Schiffen mit ein paar tausend Passagieren ist man schlechthin nur eine Kabinennummer, selbst bei bestem Service – auf einem kleinen Schiff mit etwa 600 Leuten an Bord wird man mit Namen angesprochen und hat einen tollen Service und Komfort, den es woanders nicht gibt.“
„Auf unserem Schiff sind Alt und Jung gut durchmischt“, stellte sie fest. „Ich dachte immer, Kreuzfahrten sind eher Sache von Senioren.“
„Das ist längst nicht mehr so“, sagte ich. „Ich hab’s mal ausnahmsweise auf einem kleineren Schiff erlebt – ja, das war wie im Altersheim. Und einige von den Älteren waren ziemlich schwierig. Jeder wollte den besten Platz im Bus, der Erste am Buffet und der Wichtigste an Bord sein. So was gibt es auch. Aber die meisten waren liebe Leute. Ungezogene Alte sind die Ausnahme. Umgekehrt kann es auch anstrengend für unsereins sein, wenn mehr als tausend Kinder und Jugendliche auf einem Schiff sind, wie in den letzten Schulferien bei einem großen Anbieter vorgekommen. Jedenfalls hat man mir erzählt, dass sich mancher Erwachsene gern wieder nach Hause gewünscht hätte.“
Sie lachte. Dann beugte sie sich neugierig vor. „Waren Sie schon einmal seekrank?“
„Nein!“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Obwohl ich mal auf einer Fähre Windstärke 10 miterlebt habe. Im Skagerrak. Da war vielleicht was los. Die meisten Leute setzten sich unten in der Schiffsmitte in die Gänge, weil es dort angeblich nicht so mächtig schaukelt. Ich habe immer gedacht, es sei eine Erfindung, dass Seekranke grünliche Gesichter haben. Aber es stimmt.“
„Und es hat Ihnen wirklich nichts ausgemacht?“
„Nein, ich hatte Glück – mir ging’s gut. Ich habe mich in die Kabine verzogen und mir „Mord mit Aussicht“ im Fernsehen angeguckt. Als wir an der dänischen Küste vorbeikamen, war der Spuk sowieso zu Ende.“
„Toll – Sie sind ja ein richtiger Seebär!“, Danielle blickte mich bewundernd an. Ich wuchs auf der Stelle innerlich auf doppelte Größe.
„Sie wollten mich nicht ins Restaurant lassen“, schallte es vom Nebentisch zu uns herüber. Wir sahen hin. Natürlich, der „Loser“, der ungefragt und laut erzählte.
„Ich war pünktlich da, als hier geöffnet wurde“, er beugte sich zu den Nimmers hinüber. „Aber ich hatte kurze Hosen an. Das gehöre sich angeblich nicht beim Abendessen, und der Zerberus am Eingang hat mich zurück in die Kabine geschickt, damit ich mich umziehe.“
Danielle lachte unwillkürlich auf. Der hagere Kerl war wirklich echt schräg. Auch ich musste schmunzeln. Man legte beim Abendessen heutzutage längst viel Wert darauf, dass die Gäste einigermaßen ordentlich angezogen kommen. Ich hatte es einmal vor Jahren auf einem großen Schiff erlebt, wie sich ein Passagier im Buffetrestaurant bei mir beklagte. „Es ist meine erste Kreuzfahrt – ich habe „Das Traumschiff“ gesehen und am ersten Abend einen Anzug angezogen, mit allem Pipapo – Krawatte, schicke Schuhe. Meine Frau hatte ein kleines Schwarzes an. Aber dann waren dort die anderen Leute, ganz leger, viele im Schlabberlook. Einer steckte sogar in Bermudahosen, ein anderer kam barfuß hereingeschlurft zum Essen“, hatte er geschimpft.
Nun, auch bei diesem Kreuzfahrtanbieter hatte sich das inzwischen geändert. Barfuß oder in Badesachen ließ man niemand mehr zum Essen herein, da passte das Personal auf.
Die Vorspeise kam und dann die Suppe. „Köstlich, nicht wahr?“, sagte Danielle.
Mit der Hauptspeise dauerte es noch etwas länger. Ich nutzte die Zeit, um etwas loszuwerden.
„Wissen Sie, was mir vorhin passiert ist?“, erzählte ich, auch um mich ein bisschen wichtig zu machen. „Ich hatte in der Kabine die Schublade des Schreibtischs etwas zu weit herausgezogen. Sie klemmte und da habe ich darunter gegriffen, um sie ein bisschen hin und her zu rütteln. Ja, und dann habe ich das hier gefunden. Es war mit Tesa-Film an der Unterseite der Lade festgeklebt.“
Ich schob Danielle einen kleinen Zettel hinüber, auf dem etwas stand.
„Eine Telefonnummer?“, fragte sie halblaut. Sie starrte darauf und las sie dann laut vor.
„Eine englische Nummer“, sagte ich, „ellenlang durch die Vorwahl. 00441232 und so weiter. Also, London ist das nicht. Die haben 0044181 vorneweg.“
„Es ist nicht England, sondern Nordirland“, erscholl es vom Nachbartisch. Ich hatte offenbar viel zu laut geredet. Hendrik Nimmer hatte es gehört.
„Nordirland?“, echote ich.
„Genau genommen ist es Belfast. Ich war schon mal dort und kenne deshalb die Telefonvorwahl. 00441232. Wie war der Anschluss?“
Danielle las es laut vor.
„Festnetz!“, stellte Nimmer fest. „Ein bisschen seltsam, so was unter einer Schublade zu verstecken.“ Er lachte laut. „Die Nummer hinter der Vorwahl ist aber gut zu merken.“
Ich hatte das auch gleich bemerkt. Mit ihren wenigen Ziffern und zweimal der Drei und zweimal der Fünf war sie sehr einprägsam.
„Da steht auch der Name des Teilnehmers daneben“, warf ich ein. „Poix!“ Ich lachte. „So möchte ich nicht heißen. Das kann man ja kaum vernünftig aussprechen. Naja, vielleicht rufe ich diesen Herrn Poix mal an, wenn wir in Belfast anlegen und frage ihn, was das hier soll“, sagte ich.
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