Ich wende mich an die Kirchenlehrer der ersten Jahrhunderte und sehe, dass sie alle stets ihre Lehre, die sich von allen anderen Lehren unterschied, dadurch feststellen, dass sie keinen zu etwas zwangen, keinen richteten (Athenagoras, Origenes), keinen töteten, sondern nur die Martern ertrugen, die ihnen von den menschlichen Gerichten auferlegt wurden. Alle Märtyrer haben dasselbe durch die Tat bekannt.
Ich sehe, dass die ganze Christenheit bis Konstantin nie anders auf die Gerichte gesehen hat, als auf ein Übel, das man geduldig ertragen müsse, dass es aber keinem einzigen Christen aus jener Zeit in den Sinn kommen konnte, ein Christ könne sich am Gerichte beteiligen.
Ich sehe, dass Christi Worte: richtet nicht und verdammet nicht, von seinen ersten Jüngern ebenso aufgefasst worden sind, wie ich sie jetzt, in ihrer geraden Bedeutung auffasste: richtet nicht in den Gerichten – nehmet nicht teil an Gerichten.
Alles bestätigte unzweifelhaft meine Überzeugung, dass die Worte »richtet nicht und verdammet nicht« heissen sollen: richtet nicht in Gerichten; die Erklärung jedoch, dass sie bedeuten sollen: verleumdet nicht euren Nächsten, ist eine so allgemein angenommene und die Gerichte gedeihen mit solcher Kühnheit und solchem Selbstbewusstsein in allen christlichen Staaten, sich sogar auf die Kirche stützend, dass ich lange an der Richtigkeit meiner Auffassung zweifelte. Wenn alle Menschen so urteilen und dennoch christliche Gerichte einsetzen konnten, so mussten sie doch irgend eine Begründung dafür haben, und da muss etwas sein, was du nicht verstehst – sagte ich zu mir. Es muss Gründe geben, nach denen diese Worte in dem Sinne der Verleumdung aufgefasst werden, und es muss Gründe geben, auf die sich die Errichtung der christlichen Gerichte stützt.
Und ich wandte mich an die Erklärungen der Kirche. In allen diesen Erklärungen fand ich, vom 5. Jahrhundert an, dass es angenommen ist diese Worte in dem Sinne der Verdammung des Nächsten in Worten aufzufassen, d. h. als Verleumdung. Und da es angenommen ist diese Worte nur als Verdammung seines Nächsten in Worten zu verstehen, so entsteht die Schwierigkeit: wie soll man nicht verdammen? Es ist nicht möglich das Böse nicht zu verdammen. Und deshalb drehen sich alle Erklärungen um das, was man verdammen und um das, was man nicht verdammen soll. Es heisst, die Diener der Kirche können das nicht als Verbot des Richtens auffassen, da selbst die Apostel gerichtet haben (Johannes Ev., Chrysostomus und Theophylax). Es heisst, dass Christus mit diesen Worten wahrscheinlich auf die Juden hindeuten wollte, die ihren Nächsten der geringen Sünden beschuldigten und selbst grosse Sünden begingen.
Nirgends aber ist die Rede von menschlichen Einrichtungen, von Gerichten oder von den Beziehungen dieser Gerichte zu dem Verbote des Richtens. Verbietet Christus diese Gerichte oder gestattet er sie? – Auf diese natürliche Frage gibt es keine Antwort, als wäre es bereits zu augenscheinlich, dass, sobald ein Christ einen Platz im Gerichte eingenommen, er nicht nur seinen Nächsten nicht verdammen, sondern ihn auch nicht richten dürfe.
Ich wende mich an griechische, katholische, protestantische Schriftsteller, an die Schriftsteller der Tübinger und historischen Schule. Von allen, selbst von den am freiesten denkenden Erläuterern werden diese Worte als Verbot des Verleumdens aufgefasst. Weshalb aber werden diese Worte, im Gegensatz zu der ganzen Lehre Christi, in so engem Sinne aufgefasst, dass das Verbot des Richtens das Verbot der Gerichte ausschliesst? Warum wird angenommen, dass Christus, indem er das Verdammen des Nächsten, das einem unwillkürlich entschlüpft, als eine schlechte Tat verbietet, ein eben solches Verdammen, das bewusst und mit Gewalttätigkeit gegen den Beschuldigten ausgeführt wird, nicht als eine schlechte Tat ansieht und es nicht verbietet? Darauf gibt es keine Antwort und nicht die geringste Andeutung darüber, dass man unter diesem Verdammen auch dasjenige Verdammen verstehen könne, welches in den Gerichten stattfindet und worunter Millionen von Menschen zu leiden haben. Mehr als das – um dieser Worte willen: richtet nicht und verdammet nicht, wird dieses grausamste Verfahren der gerichtlichen Verdammung sorgfältig umgangen und sogar entschuldigt. Die Ausleger, Theologen, sprechen davon, dass Gerichte in christlichen Staaten bestehen müssen und dass sie dem Gesetze Christi nicht entgegen sind.
Als ich dies bemerkte, zweifelte ich bereits an der Aufrichtigkeit dieser Auslegungen und machte mich an die Übersetzung selbst der Worte »richtet« und »verdammet«; ich tat also das, womit ich hätte beginnen sollen.
Im Original sind dies die Worte κρίνω und καταδικάζω. Die falsche Übersetzung des Wortes καταλαλέω in der Epistel Jakobi, wo es durch das Wort afterreden wiedergegeben ist, bestätigte meinen Zweifel an der Richtigkeit des Ausdrucks. Ich forsche danach, wie im Evangelium die Worte κρίνω und καταδικάζω in verschiedenen Sprachen übersetzt sind, und finde, dass in der Vulgata das Wort verdammen durch condemnare wiedergegeben ist, ebenso heisst es im Französischen und im Slavischen heisst es ossuchdaite. Bei Luther steht das Wort »verdammen«, weiches einen andern Sinn hat.
Die Verschiedenheit dieser Übersetzungen verstärkt noch meine Zweifel und ich steile mir die Frage: was bedeutet und was kann das griechische Wort κρίνω und das Wort καταδικάζω bedeuten, das der Evangelist Lukas gebraucht, der, nach dem Urteile der Kenner, ein ziemlich gutes Griechisch geschrieben hat. Wie würde jemand, der nichts von der Lehre des Evangeliums und dessen Erläuterungen weiss und der nur dies eine Wort vor sich hätte, dieses Wort übersetzen?
Ich forsche im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass das Wort κρίνω viele verschiedene Bedeutungen hat und darunter die ausserordentlich gebräuchliche Bedeutung gerichtlich verurteilen, töten sogar, nie aber die Bedeutung verleumden. Im Lexikon des neuen Testaments nachschlagend, finde ich, dass dieses Wort im neuen Testament oft in dem Sinne gerichtlich verurteilen gebraucht wird. Zuweilen hat es die Bedeutung auslosen, nie aber die Bedeutung verleumden. Und so sehe ich, dass das Wort κρίνω verschieden übersetzt werden kann, dass aber eine Übersetzung, die ihm die Bedeutung verleumden beilegt, die entfernteste und unerwartetste ist. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω, das sich an das Wort κρίνω anschliesst, welches so viele Bedeutungen hat, augenscheinlich um die Bedeutung festzustellen, in welcher das erste Wort vom Schreibenden gebraucht wird. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass dieses Wort nie eine andere Bedeutung hat, als die: gerichtlich zu Strafe verurteilen oder töten. Ich forsche im Wörterbuch des neuen Testaments und finde, dass dies Wort im neuen Testament viermal angewendet ist und jedesmal in dem Sinne verurteilen, töten. Ich forsche in den Kontexten und finde, dass dieses Wort in der Epistel Jakobi Kap. 5, 6 angewendet ist, wo es heisst: ihr habt verurteilet den Gerechten und getötet. Das Wort verurteilen, dasselbe Wort καταδικάζω ist auf Christus angewandt, den man gerichtet hat. – Anders, in einem anderen Sinne, wird dies Wort nie, weder im neuen Testament noch in irgend einer griechischen Sprache gebraucht.
Was war denn das? So weit war ich zum Narren geworden? – Mir, so gut wie jedem von uns, der in unserer Gesellschaft lebte, musste, sobald wir über das Schicksal der Menschen nachdachten, grauen vor jenen Qualen und jenem Bösen, das die menschlichen Kriminalgerichte in das Leben des Menschen bringen: Böses für die Gerichteten und Böses für die Richtenden – von den Hinrichtungen des Tschingis-Chan und der französischen Revolution bis zu den Todesstrafen unserer Tage.
Keinem Menschen von Gemüt ist jener Eindruck des Grauens und des Zweifels am Guten fremd geblieben beim Erzählen allein – ich spreche schon gar nicht vom Anblick der Strafen, die ein Mensch an einem andern Menschen vollzieht: das Spießrutenlaufen bis zum Tode, die Guillotine, der Galgen.
Читать дальше