Man sollte annehmen, dass es notwendig wäre, bevor man die Lehre Christi beurteilt, zu verstehen worin diese Lehre besteht. Und um zu entscheiden ob diese Lehre vernünftig sei oder nicht, müsste man zu allererst anerkennen, dass Christus das, was er gesagt hat, wirklich gesagt hat. Dieses aber tun wir eben nicht: die kirchlichen ebensowenig wie die freidenkenden Erläuterer. Und wir wissen sehr gut weshalb wir das nicht tun.
Wir wissen sehr wohl, dass die Lehre Christi immer wie auch jetzt jene menschlichen Irrtümer in ihre Verwerfung mit einbegriffen hat, jene »tohu«, jene Götzen, die wir unter dem Namen der Kirche, des Staates, der Kultur, der Wissenschaft, der Kunst, der Zivilisation aus der Reihe der Irrtümer zu retten vermeinen. Christus aber spricht gerade gegen diese, indem er gar keine »tohu« ausschliesst.
Nicht nur Christus, sondern auch alle hebräischen Propheten, Johannes der Täufer, alle wahren Weisen der Welt sprechen gerade über dieselbe Kirche, über denselben Staat, über dieselbe Kultur und dieselbe Zivilisation und nennen sie das Übel und das Verderben der Menschen.
Nehmen wir an: der Baumeister sagt zum Hausbesitzer, Ihr Haus ist schlecht, Sie müssen es vollständig umbauen. Und dann wird er über die Einzelheiten sprechen, was für Balken dazu notwendig sind, wie sie behauen und wohin sie gelegt werden müssen. Der Hausbesitzer wird die Erklärung, dass das Haus schlecht sei und umgebaut werden müsse, überhören und wird mit erheuchelter Achtung den Worten des Baumeisters über die weiteren Anordnungen und Einrichtungen im Hause lauschen. Augenscheinlich werden alle Ratschläge des Baumeisters untauglich erscheinen und der den Baumeister Missachtende wird diese Ratschläge geradezu einfältig nennen. Genau dasselbe geschieht in Beziehung auf die Lehre Christi.
Da ich keinen besseren Vergleich fand, habe ich diesen angewendet und erinnere dabei noch, dass Christus beim Predigen seiner Lehre eben denselben Vergleich aufgestellt hat. Er hat gesagt: ich werde euren Tempel zerstören und in drei Tagen einen neuen Tempel aufbauen. Und dafür ward er gekreuzigt. Und dafür kreuzigt man jetzt seine Lehre.
Das Geringste was man von Menschen verlangen kann, die irgend jemandes Lehre beurteilen, ist, dass sie diese Lehre so verstehen, wie der Verkündiger derselben sie selbst aufgefasst hat. Und Christus fasste seine Lehre nicht als irgend ein entferntes Ideal der Menschheit auf, das zu erreichen eine Unmöglichkeit wäre, nicht als schwärmerische, poetische Phantasie, mit der er die einfältigen Einwohner von Galiläi bezaubern wollte, nein, er fasste seine Lehre auf als ein Werk, das die Menschheit erlöst, und er schwärmte nicht am Kreuze, sondern er schrie und starb für seine Lehre. Und so starben und sterben noch heute viele Menschen. Eine solche Lehre kann man nicht einen »Wahn« nennen.
Jede Lehre der Wahrheit ist ein Trugbild für den Verirrten. Wir sind dahin gelangt, dass es viele Menschen gibt (auch ich gehöre zu ihnen), die da sagen, diese Lehre sei eine schwärmerische, weil sie der menschlichen Natur nicht entspreche. Es ist, sagen sie, dem Menschen nicht eigen den andern Backen zu bieten, wenn man ihn auf den einen geschlagen hat; es ist ihm nicht eigen sein Eigentum an Fremde wegzugeben; es ist ihm nicht eigen für andere und nicht für sich zu arbeiten. Es ist dem Menschen eigen, sagen sie, sich zu verteidigen, die Sicherheit seiner Person und seiner Familie und sein Eigentum zu schützen; mit andern Worten: es ist dem Menschen eigen für sein Dasein zu kämpfen. Der gelehrte Jurist beweist rechtskundig, dass die heiligste Pflicht des Menschen die Verteidigung seines Rechtes ist, folglich der Kampf.
Jedoch man braucht sich nur auf einen Moment von dem Gedanken loszusagen, dass die bestehende, von den Menschen getroffene Einrichtung die allerbeste, die heiligste Einrichtung des Lebens sei, – und sofort kehrt sich der Ausspruch dessen, dass die Lehre Christi der menschlichen Natur nicht entspreche, gegen diejenigen, die solchen Ausspruch tun. Wer wird darüber streiten, dass nicht nur das Quälen und Töten eines Hundes, eines Huhnes oder Kalbes der menschlichen Natur zuwider und qualvoll ist? (Ich kenne Leute, die von der Landwirtschaft leben und aufgehört haben Fleisch zu essen, weil sie gezwungen waren ihr Vieh selbst zu schlachten.) Und bei alledem ist unsere ganze Lebenseinrichtung eine derartige, dass jedes persönliche Glück eines Menschen durch das Leiden anderer Menschen erkauft wird, was doch der menschlichen Natur entgegen ist. Die ganze Einrichtung unseres Lebens, der ganze komplizierte Mechanismus unserer Einrichtungen, welche die Gewalttätigkeit zum Zweck haben, zeugt davon, bis zu welchem Grade die Gewalttätigkeit der menschlichen Natur zuwider ist. Kein Richter wird sich dazu entschliessen denjenigen, den er seinem Rechte nach, zum Tode verurteilt hat, selbst mit dem Stricke zu erdrosseln. Kein Vorgesetzter wird sich entschliessen den Bauer seiner weinenden Familie zu entreissen und ihn ins Gefängnis zu sperren. Kein General oder Soldat wird ohne Disziplin, ohne Eid und Krieg hunderte von Türken, Franzosen oder Deutschen töten und ihre Dörfer zerstören, ja sich auch nur entschliessen einen einzigen Menschen zu verwunden. Alles dies geschieht nur dank jener komplizierten Gesellschafts- und Staatsmaschine, deren Aufgabe darin besteht die Verantwortlichkeit der zu vollführenden Missetaten derart zu zersplittern, dass niemand die Widernatürlichkeit dieser Handlungen empfinde. Die einen schreiben die Gesetze, die andern wenden sie an, die dritten richten die Leute ab, indem sie ihnen die Gewohnheiten der Disziplin, d. h. der sinnlosen, stummen Unterwerfung, anerziehen, die vierten – eben diese abgerichteten Leute – begehen allerhand Gewalttaten, töten sogar Menschen, ohne zu wissen warum und wozu. – Es braucht aber der Mensch nur auf einen Augenblick sich in Gedanken von diesem Netze weltlicher Einrichtungen, in dem er verwickelt, zu befreien, um zu erkennen was gegen seine Natur ist.
Wollen wir einfach die Behauptung aufheben, das gewohnte Übel, das uns zu nutze kommt, sei eine unumstößliche göttliche Wahrheit, so wird uns sofort klar, was dem Menschen eigen ist: die Gewalttätigkeit oder das Gesetz Christi?
Wissen, dass die Ruhe und Sicherheit meiner selbst und meiner Familie, dass alle meine Freuden und Vergnügungen erkauft werden durch Armut, durch Verkommenheit und Leiden von Millionen – durch alljährliche Henkungen, Hunderttausende unglücklicher Gefangener, durch Millionen der Familie entrissener und durch Disziplin verdummter Soldaten und Polizisten, die meine Belustigungen mit ihren auf den Hungernden gerichteten Pistolen beschützen; jeden süssen Bissen, den ich mir oder meinen Kindern in den Mund lege, durch alle jene Leiden der Menschheit erkaufen, die zur Erlangung dieser süssen Bissen notwendig sind: oder wissen, dass, welcher Bissen es auch sei, er nur dann der meinige ist, wenn ihn niemand braucht und niemand um seinetwillen leidet. – Man braucht nur einmal zu begreifen, dass es so ist, dass jede meiner Freuden, jeder Augenblick der Ruhe bei unserer Lebenseinrichtung durch Entbehrungen und Leiden Tausender, die mit Gewalt niedergehalten werden, erkauft wird; man braucht dies nur einmal zu begreifen um inne zu werden, was der ganzen menschlichen Natur eigen ist, d. h. nicht allein der tierischen, sondern auch der vernünftigen, sittlichen Natur des Menschen; man braucht nur Christi Gesetz in seiner ganzen Bedeutung, mit allen seinen Folgen zu verstehen um zu begreifen, dass nicht nur die Lehre Christi der menschlichen Natur nicht entgegen ist, sondern dass diese Lehre gerade darin besteht, die der menschlichen Natur zuwiderlaufende, trügerische Lehre der Menschen über das Widerstreben dem Übel, das unser Leben zu einem unglücklichen macht, zu verwerfen.
Christi Lehre über das Nichtwiderstreben dem Übel – ein Wahn! – Das aber, dass das Leben der Menschen, in deren Seele Mitleid und Liebe zu einander gelegt ist, bestand und besteht: für die einen in Errichtung von Scheiterhaufen, in Peitschenhieben, Rädern, Spießrutenlaufen, Aufreissen der Nasenlöcher, Foltern, Ketten, Galeeren, Galgen, Erschiessungen, Zuchthäusern für Frauen und Kinder, in Kriegen, in denen tausende von Menschen hingeschlachtet werden, in periodischen Revolutionen mit all' ihren Schrecknissen; – für die andern in der Ausführung all' dieser Gräueltaten und für die dritten darin solche Leiden zu verhindern und dieselben zu rächen – ein solches Leben ist kein Wahn!
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