Eher um Krach zu machen, als weil sie wirklich so große Lust haben, Leona zu begrüßen, glaube ich. Leona zieht den Kopf ein, während ihr Blick durch den Raum flitzt wie eine Maus in Todesangst.
Ich rufe nicht, aber ich versuche ihr zuzulächeln. Niemand hier wird dir etwas tun, will ich zu ihr sagen. Jedenfalls nicht die, die jetzt am lautesten rufen.
Einen kurzen Augenblick lang begegnen sich unsere Blicke. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie lächelt zurück.
»Herzlich willkommen in der 7A der Solkleiva-Schule. Und ich hoffe, alle in dieser Klasse werden ihr Bestes geben, damit du dich bei uns wohlfühlst«, sagt Nils.
Leona darf sich wieder setzen, und Nils teilt Mitteilungsblätter aus, die wir unseren Eltern geben sollen. Es geht um den Schwimmunterricht. Diesen Herbst haben alle siebten Klassen drei Stunden pro Woche Schwimmen, und unsere Klasse soll schon nächste Woche damit anfangen.
In der ersten Pause wollen sich alle mit Leona unterhalten.
»Wo hast du früher gewohnt?«
»Was hast du für Hobbys?«
»Machst du Sport?«
»Hast du einen Lieblingsladen?«
Die Fragen prasseln nur so auf sie ein. Aber bevor sie antworten kann, wird sie von Yasmin aus der Menge gezogen. Vielleicht will Yasmin Leona ganz für sich allein haben. Das dürfen wir ihr nicht erlauben.
»Können wir nicht einfach alle gemeinsam etwas machen?«, sagt Amina und rückt sich die Brille zurecht. Seit dem Sommer trägt sie eine Brille und sie hat sich noch nicht richtig daran gewöhnt.
»Wollen wir Gummitwist spielen?«, frage ich schnell.
Sarah stöhnt genervt, so wie immer, wenn jemand etwas vorschlägt, das sie kindisch findet.
»Wie langweilig!«, sagt sie und rollt mit den Augen.
Ich beiße mir auf die Lippe. Sarah ist nicht nur das hübscheste Mädchen der Klasse, noch hübscher als Yasmin, sondern auch das beliebteste. Sie hat Prinzessinnenhaare, solche langen, blonden Locken, von denen alle Mädchen träumen, seit sie fünf sind. Sarah ist der Boss, und wenn Sarah sagt, dass etwas langweilig ist, dann ist es eben langweilig.
»Ja. Langweilig!«, sagt Ebba, die immer mit Sarah einer Meinung ist. Seit einiger Zeit zieht sie sich noch dazu genau so an wie Sarah, jetzt haben die beiden eine völlig gleiche Jacke und die gleichen Schuhe.
Aber Amina wagt es, Sarah zu widersprechen. Sie ist wohl die Einzige in der Klasse, die sich das traut, und sie sagt Ja zu Gummitwist. Da nimmt Sarah Ebba an der Hand und die beiden verlassen die Gruppe. Als sie fort sind, wollen auch noch ein paar andere beim Gummitwist mitmachen.
Leona windet sich und sagt, sie kenne sich mit Gummitwist nicht besonders gut aus. Wir müssen ihr die Regeln erklären, und schon bald merken wir, dass sie es zum ersten Mal spielt.
»Spielt ihr im Norden etwa nicht Gummitwist?!«, fragt Amina.
Leona schaut auf den Boden und murmelt irgendetwas, das niemand von uns versteht.
Sarah und Ebba sitzen die ganze Pause lang allein auf einer Bank. Vielleicht unterhalten sie sich darüber, wie es ist, Brüste zu haben und plötzlich auszusehen wie eine Erwachsene.
An ihrem ersten Tag wollen viele von uns Leona nach Hause begleiten. Ich komme auch mit, und so finde ich heraus, wo sie wohnt. Ihr Haus ist nicht weit von meinem entfernt. Ich hoffe, dass sie uns zu sich einlädt, aber das tut sie nicht.
»Bis morgen!«, sage ich.
Leona lächelt vorsichtig, bevor sie ins Haus verschwindet.
Am Nachmittag wird in unserem Gruppenchat darüber geredet, dass sie süß ist und nett wirkt, und Amina fragt Yasmin, ob sie Leona in unsere Chatgruppe einladen kann. Aber wenig später antwortet Yasmin: »Sie ist nicht auf Social Media.«
»Hää?«, schreibt Ebba.
»Vielleicht versteckt sie sich gern?«, meint Sarah.
»Oder es gibt dort, wo sie herkommt, kein Social Media«, schreibt Ebba.
»Social Media gibt es auf der ganzen Welt, du Dumpfbacke«, schreibt Sarah zurück, ganz ohne Smileys oder Herzchen, und dadurch sieht ihre Nachricht ziemlich gemein aus.
»War nur Spaß«, schreibt Ebba schnell.
Und dann schickt sie drei Emojis mit Lachtränen.
Aber mit Ebba ist es immer so. Man weiß nie genau, ob sie es ernst meint, wenn sie solche Sachen schreibt. Manchmal ist es verblüffend, wie viele Dinge es gibt, die Ebba nicht weiß, auch wenn sie seit den Sommerferien die Größte in der Klasse ist und so aussieht, als ginge sie schon ins Gymnasium.
Ich schreibe nichts im Chat. Ich mache Englisch-Hausaufgaben. Nach einer Weile wird mir langweilig und ich fange an, mit dem Stift gegen die Schreibtischplatte zu trommeln. Dann trommle ich gegen ein Glas und dann gegen die Lampe. Drei unterschiedliche Klänge. In jeder Hand halte ich einen Stift und trommle drauflos. Ich liebe es, zu trommeln, auch wenn ich es nie richtig gelernt habe. Ich brauche nicht mehr als zwei Stifte, um meine eigene Musik zu machen.
Amina schickt mir eine Nachricht und möchte wissen, was ich mache.
»Nichts Besonderes«, antworte ich.
Ich warte ab, ob Amina vorschlagen wird, etwas gemeinsam zu unternehmen, aber es kommt keine weitere Nachricht. Nach einer Weile gehe ich online und suche auf YouTube nach Löwen.
Ich habe Löwen immer schon gemocht. Löwen sind die einzige Katzenart, die in Rudeln lebt. Die Männchen sind wunderschön mit ihren großen, goldenen Mähnen. Aber die besseren Jäger sind die Weibchen. Sie leben länger als die Männchen und können auch Rudelführer sein. Viele wissen das nicht.
Als wir in Kristiansand den Tierpark besucht haben, wollte ich mich mit den Tigern und Giraffen gar nicht erst abgeben. Ich wollte nur zu den Löwen. Ich hoffte, einer der Löwen würde so laut brüllen, dass die Erde davon bebte. Aber die Löwen brüllten nicht. Die meiste Zeit lagen sie ganz ruhig unter einem Baum und sahen aus, als würden sie schlafen. Doch dann wurde es Zeit für die Fütterung. Die Tierpfleger ließen ein Fleischstück ein paar Meter über dem Boden hin und her baumeln, sodass die Löwen, wenn sie es erwischen wollten, hoch in die Luft springen mussten. Ich wollte erst weitergehen, nachdem jeder einzelne Löwe zu fressen bekommen hatte.
Dass Leona »Löwin« bedeutet, weiß ich aus einem Buch, das wir zu Hause haben. Darin stehen alle Namen, die es gibt, und deren Bedeutung. Mein Name zum Beispiel kommt von Magdalena und bedeutet »aus Magdala«. Nicht, dass ich wüsste, wo Magdala liegt.
Meine Eltern hätten mich doch auch Viktoria nennen können. Das bedeutet »Sieg«. Oder Sarah, was »feine Dame« bedeutet, »Fürstin« oder »Prinzessin«. Aber nein. Es musste »Malin« sein, ein ganz gewöhnlicher Name für ein ganz gewöhnliches Mädchen. Aus Magdala.
Mit diesem Namen ist es vielleicht kein Wunder, dass ich mich meistens im Hintergrund halte. Fast niemand weiß, dass ich Dinge mag, die so richtig Lärm machen. Ich liebe brüllende Löwen und wummernde Trommeln. Vielleicht wäre ich cooler geworden, wenn ich einen schöneren und mutiger klingenden Namen hätte. Wie Leona. Leona, die Löwin.
Am nächsten Tag stehen Sarah und Ebba schon vor dem Klassenzimmer bereit, als Yasmin und Leona den Korridor herunterkommen. Ebba fragt laut, warum Leona nicht auf Social Media zu finden ist. Leona antwortet so leise, dass niemand ihre Antwort versteht.
»Darfst du etwa nicht?«, fragt Sarah.
»Ich bin noch nicht dreizehn«, sagt Leona etwas lauter.
»Du kannst einfach ein falsches Alter angeben«, meint Ebba.
»Das ist doch wohl ihre Entscheidung, ob sie warten will oder nicht«, sagt Amina.
Dass Amina Leona verteidigt, macht mich froh.
»Aber wie soll man sich dann mit ihr verabreden, wenn sie weder auf Snap ist noch sonstwo«, sagt Ebba.
Die Mädchen in unserer Klasse haben eine eigene Gruppe, »The 7A-Girls Rule«, aber es kommt nicht besonders oft vor, dass in dieser Gruppe Verabredungen getroffen werden, die für alle gelten.
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