Während Monaten voller Schmerz wurde ich mit einer Vielzahl von Schmerztheorien der Medizinwissenschaft konfrontiert, die sich bei genauerer Prüfung allesamt unlogisch anhörten. So wurde neben einem massiven Bandscheibenvorfall, der eindeutig auf eine Nervenwurzel im entsprechenden Bereich drücken sollte, auch immer von einer Entzündung gesprochen. Ich entgegnete, dass mein Körper, der ansonsten vollkommen gesund war, doch eine Entzündung mit seinem Immunsystem in kurzer Zeit in den Griff bekommen sollte. Zudem konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Körper, der nach einem Unfall normalerweise mit blau-rötlichen Prellungen und damit verbundenen Entzündungen hervorragend zurechtkommt, nicht erfolgreich in der Lage sein sollte, eine wie auch immer geartete Entzündung im Wirbelsäulenbereich zu bekämpfen.
Viele Aussagen der behandelnden Orthopäden waren zudem in sich widersprüchlich. Es konnte mir keiner erklären, warum sich eine sofortige Schmerzfreiheit im Sitzen oder einer sogenannten Stufenlagerung einstellte. Falls die Ursache eine angebliche Entzündung der Nervenwurzel oder ein blockierter Wirbel wäre, könnte diese sich doch nicht in Sekunden oder Minuten auflösen lassen!? Wenn der Bandscheibenvorfall selbst das Problem wäre, warum war der Schmerz dann im Sitzen besser? Der Medizinwissenschaft ist durch Röntgenaufnahmen gut bekannt, dass der Vorfall der Bandscheibe beim Sitzen anatomisch tendenziell noch stärker begünstigt wird. Ich begann deshalb, die Bandscheibe immer weniger als den eigentlichen „Übeltäter“ anzusehen, war hierbei jedoch ziemlich auf mich alleine gestellt, da alle Behandler von ihrem „klassischen Bandscheibenvorfallmodell“ nicht abweichen wollten.
Heute weiß ich, dass dies kein Einzelfall ist. Je mehr ich mich mit dem Thema auseinandersetzte, umso mehr wurde mir bewusst, wie viele Menschen unter Rückenproblemen leiden und bislang keine geeignete Therapie finden. Irgendetwas muss mit der bisherigen Schmerztheorie falsch sein, denn Rückenschmerzen sind Deutschlands Volkskrankheit Nummer Eins. Von Jahr zu Jahr leiden immer mehr Menschen darunter – die Wachstumsrate beträgt etwa 3 % – 5 % und damit erheblich mehr als demographische Alterungsprozesse erklären würden.
Bei meinen ausführlichen Recherchen erschien mir als Lösung die reine Symptombekämpfung durch die ständige Einnahme von Schmerzmitteln auf Dauer nicht zielführend zu sein. Ich war sicher, dass ich einen anderen Weg finden musste, denn viele meiner Therapeuten berichteten mir auch von ihren eigenen, aktuellen Schmerzproblemen. Der Rat der Orthopäden war zu diesem Zeitpunkt bei einer Bandscheiben-Operation angelangt. Häufig wurde ich in der damaligen Zeit mit regelrecht Angst einflößenden Ratschlägen konfrontiert, wie „Ihre Skier können sie verkaufen, die werden sie nie wieder benutzen können.“ Bis heute weiß ich nicht, inwieweit die Tatsache, Privatpatient zu sein, hierbei eine Rolle gespielt hat. Aber die aufgebaute psychisch-emotionale Drohkulisse seitens einiger Neurochirurgen / Orthopäden war doch sehr bemerkenswert.
Glücklicherweise erläuterte mir kurz danach der Freiburger Arzt Walter Packi über das Behandlungskonzept der Biokinematik die tieferen Zusammenhänge. Er hatte sich als Allgemeinmediziner und Unfallchirurg über viele Jahre hinweg mit dem Zusammenhang zwischen Schmerz und Muskeln beschäftigt und anschließend eine eigene Schmerzklinik gegründet, die seine Forschungsergebnisse sehr erfolgreich bei Patienten umsetzt. Vieles, was hier in diesem Buch zum Thema Schmerz und Muskelfunktion ausgeführt wird, beruht ursprünglich auf seinen Überlegungen. Ich bin ihm heute auch als Therapeut sehr zu Dank verpflichtet, da er mich später in der Klinik mit seinen Ärzten für Biokinematik in dieser Therapie geschult hat.
Erstmals war mit ihm ein Arzt in der Lage, die Ursache der Schmerzen grundlegend zu erklären. Als er muskuläre Blockaden im Bauchbereich (!) meines Körpers mittels einer Druckpunkttechnik mit seinem Finger auflöste, verschwand der Großteil des Rücken- und Beinschmerzes zu meiner großen Verwunderung innerhalb von Minuten. In den nachfolgenden Tagen erlernte ich die besonderen Übungen der Biokinematik. So habe ich innerhalb weniger Wochen mein körperliches Wohlbefinden wieder vollkommen hergestellt. Mein Unterbewusstsein sah nicht länger die Notwendigkeit, einen Schmerz bei einer Bewegung einschießen zu lassen, um eine blockierte Muskelstruktur vor Zugkräften ihres muskulären Gegenspielers, des Antagonisten, zu beschützen. Im weitesten Sinne kann bei der angewandten Therapiemethode von einer Weiterentwicklung der manuellen Therapie in Kombination mit speziellen physiotherapeutischen Körperübungen gesprochen werden. Hierbei wird besonders der muskuläre Gegenspieler (Antagonist) in die Behandlung mit einbezogen. Anschließend wird über ein intensives Beweglichkeitstraining der Muskulatur verhindert, dass die Beschwerden wiederkommen. Diese Art der Behandlung ist in ihrer Wirksamkeit nicht immer so schnell wie in meinem Beispiel, doch es lohnt sich, bei chronischen Schmerzen diese muskulären Zusammenhänge vor einer eventuellen Operation oder ähnlich schwerwiegen-en Eingriffen in Betracht zu ziehen. Bei vielen Patienten erlebe ich, dass alleine die Finger-Druckpunkttechnik an der richtigen Stelle die Beschwerden oft in wenigen Minuten lindern oder sogar ganz auflösen kann.
Der Unterschied des Gesamtkonzeptes zu vielen anderen Therapieverfahren liegt insbesondere darin, dass dem Patienten durch die Körperübungen und Druckpunkte vermittelt wird, wie er zukünftig seine Beschwerden selbst verhindern kann. Ein aktiver Ansatz im Vergleich zu den standardisierten passiven Methoden, wie alleinige manuelle Therapie, Faszienrollen, Massagen, Dehnungsübungen… . Kurzfristig ist die neue, alternative Vorgehensweise für den Patienten sicher etwas fordernder, dafür mit erheblich höherer (und oft dauerhafter) Erfolgsquote.
Um diesen Therapieweg bekannt zu machen, stellte ich im Jahr 2002 aus Dankbarkeit für meine Gesundung eine Internetseite zum Thema Biokinematik als gemeinnütziges Projekt ins Netz, die sich ausschließlich mit muskulärer Schmerztherapie beschäftigt und die Zusammenhänge erläutert. Sie ist heute unter der Adresse www.Muskelfunktionstraining.de erreichbar. Hier finden sich auch aktuelle Seminare und Fortbildungen zum Thema Biokinematik.
Was war bei meinem Skiunfall geschehen?
Durch den Sturz wurde die vordere Beckenmuskulatur blitzschnell überdehnt. Dies registrierte das Unterbewusstsein über verschiedene Dehnungsrezeptoren in den Muskelfasern. Aufgrund der wahrgenommenen Unfallsituation wurde durch das muskuläre Bindegewebe – im Sinne eines Schutzreflexes – sofort eine Fixierung einzelner Muskelfaserstrukturen im Beckenbereich veranlasst, um Schaden vom Körper und insbesondere der Wirbelsäule abzuwenden. Hauptsächlich war hier die tiefe Hüftbeugemuskulatur auf der Vorderseite des Körpers betroffen, da ich nach hinten überdehnt wurde.
Ohne diesen „internen Schutzreflex“ wäre ich vermutlich bei dem Sturz schwerer verletzt worden.
So sinnvoll dieser Reflex zum Unfallzeitpunkt war, der unangenehme Effekt war anschließend, dass die überdehnten Muskelfasern die Alltagsbewegungen stark einschränkten.
Hätte es sich lediglich um wenige Einzelfasern gehandelt, wäre es für das Unterbewusstsein wohl noch leicht gewesen, auf alternative und grobmotorischere Bewegungsmuster unter Zuhilfenahme von benachbarten Muskelfasern auszuweichen. Hier aber waren offensichtlich so viele Einzelbereiche betroffen, dass dieser Kompensationsmechanismus alleine nicht mehr ausreichend war. Deshalb wurden größere Einschränkungen im körperlichen Bewegungsmuster vollzogen, welche dann meine normalen Alltagssituationen stark beeinträchtigten. Diese funktionale Muskelblockade führte zu Schmerzen im Rücken und Gesäß, verbunden mit schmerzhaften Missempfindungen und lähmungsartigen Erscheinungen im Bein. Der Bandscheibenvorfall war durch die muskuläre Zuggurtung in der Lendenwirbelsäule hervorgerufen. Hier wirkten insbesondere Zugkräfte auf der Vorderseite der Wirbelsäule, welche die Bandscheibe verschoben und diese aufgrund der beim Unfall wirkenden Quer- und Scherkräfte einreißen ließen. Die Flüssigkeit aus dem Inneren der Bandscheibe trat durch diesen Riss nach außen und war radiologisch als sogenannter Sequester sichtbar.
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