So nützlich dieser Schutzreflex des Bindegewebes ist – bei chronischen Schmerzzuständen spielt er oft eine Hauptrolle und sollte deshalb intensiv in eine Behandlung miteinbezogen werden. In vielen Fällen sind sogar ein früherer Unfallschock und heutige, fasziale Gewebespannung in diesem Körperbereich miteinander „verknüpft“.
Darüber hinaus kann die Betrachtung der Muskeln und des Fasziengewebes als ein untrennbar miteinander verbundenes Bewegungssystem erklären, warum viele Schmerzen und Beschwerden weit ab von der eigentlichen Problemstelle entfernt liegen können. In der Schmerztherapie kann dieser Zusammenhang, der oft auch als Muskelketten-Denken bezeichnet wird, sehr zielführend sein.
So kann beispielsweise ein Knieschmerz seine wirkliche Ursache in den Muskelstrukturen der Fußsohle haben. Funktional sind Muskeln also miteinander verbundene Strukturen (Muskelketten), die den Körper von unten bis oben durchziehen und wo ähnlich wie im Staffellauf permanent Kräfte von einem Muskelfaserbündel auf das nächste übergeben werden. Hierbei beginnt jede Bewegungsbahn prinzipiell am ersten Halswirbel (Atlas) als Aufhängepunkt und endet in den Händen bzw. den Füßen. Die Knochen sind Teil dieser Bewegungsbahn, was sich über ihre Spannungslinien (Spongiosa Struktur) leicht nachvollziehen lässt.
Dieses komplexe Zusammenspiel geschieht unmerklich und wird vom Unterbewusstsein gesteuert. Grundsätzlich spürt man eine funktionsfähige Muskulatur nicht – erst die Auswirkungen von Störungen können als Grobmotorigkeit, Schmerz, Kribbeln, Taubheit, Missempfindungen oder auch Lähmungen bewusst werden. Derartige Symptome können daher grundsätzlich eine muskuläre Ursache haben und dürfen daher medizinisch nicht pauschal einer Nervenstörung zugeschrieben werden.
Für das synchrone Zusammenspiel der Muskulatur ist es erforderlich, dass der Körper in den jeweiligen Einzelfasern Signalgeber (Rezeptoren) hat, die dem Unterbewusstsein permanent mitteilen, wie der jeweilige Spannungszustand eines Muskelfaserbündels zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Die hierbei an das Gehirn zu übertragende Datenmenge pro Sekunde ist unbeschreiblich hoch – die Anzahl derartiger Messfühler wird auf über 10.000 geschätzt. Die Wissenschaftler nennen diese Sensoren u.a. „Propriozeptoren“ (u.a. Golgi, Ruffini, Pacini). Deren Informationen sind beispielsweise notwendig, um überhaupt das Gleichgewicht halten zu können. Denn das Gehirn verknüpft diese Daten mit den Informationen aus den Gleichgewichtsorganen des Innenohrs und berechnet so die Lage des Körpers im Raum. Anschließend steuert es dann blitzschnell alle jeweiligen Muskeln so an, dass der Mensch in der Balance bleibt. Bei jedem Ein- und Ausatmen oder mit jeder Kopfbewegung ist eine Anpassung in der Fußmuskulatur nötig. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es weniger um die Betrachtung einzelner Muskelfasern geht, sondern um die Steuerung der gesamten Muskelketten durchgehend vom Kopf bis zum Fuß. Dies zeigt, warum es einige Zeit dauert, bis das Laufen gelernt wurde und welche Perfektion sich hinter artistischen Höchstleistungen auf unterbewusster Steuerungsebene verbirgt.
Schmerz ist ein
Bewusstseinsprozess
Für gewöhnlich arbeitet das muskuläre System in den ersten Lebensjahrzehnten einwandfrei – ohne dass ein Mensch im Alltagsbewusstsein Kenntnis davon nimmt. Meistens wird die Bedeutung dieses Systems erst viel später bewusst, wenn plötzlich Schmerzen auftreten.
Um was handelt es sich bei Schmerz?
Die derzeit allgemein medizinisch verwendete Definition lautet: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.“
Schon diese Definition zeigt, dass es sich um einen Bewusstseinsprozess handelt. Weiterhin wird explizit darauf hingewiesen, dass eine Schädigung eines Körpergewebes nicht zwingend stattgefunden hat, falls es zu Schmerzen kommt.
Alle Menschen kennen Schmerzen, aber warum und wieso Schmerzen wirklich auftreten, ist nach meinen Recherchen bis heute wissenschaftlich weitgehend ungeklärt. Die Schmerzforschung teilt Schmerzen heute weitgehend isoliert nach anatomischen Strukturen ein, z.B. nach der Art der Gewebe oder dem Schmerzort. Beispiele hierfür sind Nervenschmerz (Neuralgie), Meniskusschmerz, Bandscheibenschmerz oder aber auch somatischer bzw. psychosomatischer Schmerz. Je nach Qualität des Schmerzes (bohrend, stechend, dumpf . .) erfolgen weitere Einteilungen und es werden hieraus vermeintliche Schmerzursachen abgeleitet.
Viele dieser Einteilungen sind therapeutisch wenig zweckmäßig und verwirren die betroffenen Schmerzpatienten oftmals noch weiter.
Besser wäre es, die Tatsache anzuerkennen, dass Schmerz erst durch die Verarbeitung von Signalinformationen im Bewusstsein entsteht. Diese Sichtweise und ihre therapeutische Bewertung scheint aber in der Schmerzforschung weitgehend ausgeklammert zu werden – obwohl hier die Lösung zur Vereinheitlichung vieler Schmerztheorien liegen würde.
Selbstverständlich wurden viele verschiedene Erklärungsmodelle hervorgebracht und einige sehr wirksame Schmerzmedikamente erfunden. Eine einheitliche Herleitung, welche alle oder zumindest viele Schmerzen und ihren biologischen Sinn auf einen gemeinsamen Nenner bringen würde, scheint in der medizinischen Lehre aber bis heute nicht gefunden zu sein.
Hierzu einige Zahlen zum Konsum von Schmerzmedikamenten: Nach Angaben des BKK Gesundheitsreports 2015 nimmt jeder Deutsche jährlich durchschnittlich 50 Kopfschmerztabletten ein. Von 2006 bis 2015 stieg der Absatz der extrem starken Schmerzmittel (Opiate) um 31 % an, obwohl die potentiellen Nebenwirkungen ganz erheblich sind. 300.000 Deutsche gelten als opiatabhängig.
In den meisten medizinischen Erklärungsmodellen wird Schmerz mit irgendeinem Schaden oder einer Entzündung in Verbindung gebracht. Vor allem die bei chronischen Schmerzproblemen so häufig aufgesuchte Fachärzteschaft der Orthopädie spricht hiervon regelmäßig – selbst wenn im Blut sogenannte Entzündungsparameter überhaupt nicht festgestellt werden können und sich der Patient ansonsten bester Gesundheit erfreut.
Grundsätzlich bleibt in der derzeit noch gängigen medizinischen Lehrmeinung die Frage unbeantwortet, warum manche (angeblichen) Entzündungen bei ansonsten intaktem Immunsystem jahrelang bestehen können und der Grund für chronische Schmerzen sein sollen. Die Biokinematik geht grundsätzlich davon aus, dass tatsächliche Entzündungen gleichzeitig von den fünf klassischen Entzündungszeichen begleitet sind. Diese sind: Rötung, Schwellung, Übererwärmung, eingeschränkte Funktion und Schmerz. Zudem sind Entzündungen im Regelfall in Blutuntersuchungsparametern nachweisbar (Leukozyten, Blutsenkung, C-reaktives Protein, Procalcitonin...). Fehlt nur eines der Entzündungszeichen oder ist im Blut keine Entzündung nachweisbar, so geht die Biokinematik therapeutisch nicht von einer primären Entzündungproblematik aus. Viele dieser genannten Symptome lassen sich über die Muskelfunktion und deren schon länger eingeschränkte Funktion erklären.
Diese Sichtweise unterscheidet sich klar von der Vorgehensweise der klassischen Schulmedizin, insbesondere im Bereich der Orthopädie. Ich kenne den Leidensdruck von chronischen Schmerzpatienten und er wird dann besonders deutlich, wenn einem Betroffenen am Ende einer langen, erfolglosen Behandlung von Ärzten als Alternative mitgeteilt wird, seine Probleme wären rein psychischer Natur oder lediglich eingebildet, obwohl es sich tatsächlich lediglich um größere muskuläre Fehlfunktionen handelt. Offensichtlich bestehen bezüglich des Schmerzphänomens noch große Defizite in den Theorien der Schulmedizin.
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