Ich möchte darauf hinweisen, dass Schmerz auch nur in den seltensten Fällen ein Hinweis auf wirklich lebensbedrohliche Erkrankungen ist. Viele Immunerkrankungen oder auch Krebs sind bis zum Endstadium nicht oder nur kaum schmerzhaft. Oftmals werden diese Erkrankungen erst dann sehr schmerzhaft, wenn durch eine Raumforderung oder die Gewebezerstörung die freie Beweglichkeit von Muskelstrukturen beeinträchtigt wird.
Um die Entstehung von Schmerz tiefgreifend zu verstehen, ist es unabdingbar, sich gedanklich von der Stelle wegzubewegen, an der es weh tut.
Es ist erforderlich, die lokale Dimension des Schmerzortes zu verlassen und eine Ebene höher zu gehen – in das menschliche Bewusstsein. Denn die Schmerzwahrnehmung ist in erster Linie ein Bewusstseinsprozess. Daher spüren bewusstlose Menschen keinen Schmerz. Diesen Effekt macht sich die Medizin nach schweren Unfällen zu Nutze, wenn Verletzte in ein künstliches Koma versetzt werden. Das Spüren von Schmerz ist eine Empfindung, welche erst im Bewusstsein hervorgebracht wird. Es ist immer eine individuelle Bewertung von Informationen aus dem Körper und der Psyche des Betroffenen. Diese Bewertung erfolgt im (Unter-)Bewusstsein, das alarmiert reagiert, wenn bestimmte Normparameter größere Abweichungen aufweisen. Dies erklärt auch, warum Menschen Schmerz in seiner Ausprägung subjektiv so unterschiedlich empfinden.
Aus eigener Erfahrung sind mir starke Schmerzen aus der Vergangenheit sehr gut bekannt. Doch für mich besteht kein Zweifel, dass Schmerz durch das (Unter-)Bewusstsein lediglich in eine bestimmte Region projiziert wird. Er entsteht erst durch die Verarbeitung von verschiedenen Informationen und nicht bereits an der Stelle, wo es schmerzt. Aus diesem Grund darf man sich nicht täuschen lassen, dass genau an der Schmerzstelle ein Schaden sein muss. Das kann der Fall sein, muss aber nicht. Insbesondere bei chronischen Schmerzen wird häufig am Schmerzort kein Schaden vorhanden sein – auch wenn in der derzeit noch herrschenden Lehrmeinung der Medizin oft Gegenteiliges behauptet wird. So kommt es zur Interpretation vermeintlicher „Normabweichungen“ bestimmter Körperteile, die beim Schmerzgeschehen oftmals überhaupt nicht relevant sind. So geschieht es, dass häufig unnötig oder an der falschen Stelle therapiert wird. Der immer weiter zunehmende Anteil chronisch schmerzkranker Menschen in der Bevölkerung belegt deutlich, dass es offensichtlich große Behandlungsdefizite in der Schmerztherapie gibt.
Wie weit dies die Lebensqualität und die Produktivität von Betroffenen einschränkt, kann nur gemutmaßt werden.
Derartige Schmerzen werden in der Mehrzahl der ärztlichen Diagnosen als unspezifisch bezeichnet. Dies bedeutet, dass die Ursache des Schmerzes aufgrund einer unvollständigen Schmerztheorie unbekannt erscheint. Grundsätzlich möchte ich auch davor warnen, jeden Menschen im Sinne einer einheitlichen Norm optimieren zu wollen, wie dies in zahlreichen Therapien immer wieder geschieht. Es gibt keinen Normmenschen, sondern rund sieben Milliarden Menschen mit variantenreichen Körpern und unterschiedlichen psychischen Prägungen.
Schmerzphänomene sind deshalb höchst individuell, und insofern auch meist unterschiedlich zu therapieren. So häufig Parallelen der Ursachen zu finden sind – ich habe noch keine zwei identischen Patienten in meiner Praxis gehabt. Von einem weit verbreiteten Denken in „Standardschubladen“ sollte sich die Medizinwissenschaft deshalb besser hüten. Sicher spielen häufig auch psychisch-emotionale Probleme eine Rolle, auf die in diesem Buch nicht tiefer eingegangen werden kann. Doch selbst diese müssen zur Entstehung von chronischem Schmerz nicht zwingend vorhanden sein. Es ist also zu kurz gegriffen, wenn Mediziner ohne Nachweis einer körperlichen Schädigung den Schmerz am Ende als psychisch verursacht (psychosomatisch) ansehen.
Schmerz kann ohne einen körperlichen Schaden, ohne äußerliche Fremdeinwirkung und ohne einen Entzündungsprozess entstehen. Nervenbeeinträchtigungen müssen ebenfalls keine Rolle spielen.Die meisten chronischen Schmerzen fallen in diese Kategorie und werden bislang nicht ursachengerecht therapiert. |
Nutzwert von Schmerz
Es mag erstaunen, doch aus Sicht des Körpers hat Schmerz sicher einen großen Nutzen. Nur so lässt sich erklären, dass im Rahmen der menschlichen Evolution die Schmerzwahrnehmung nicht verschwunden ist. Geschätzte 70 Billionen Körperzellen arbeiten im Körper laufend harmonisch und synchron zusammen. Die Medizinwissenschaft ist derzeit nicht in der Lage, die Steuerung einer solchen Komplexität auch nur annähernd zu erklären. Es ist sicher zu kurz gedacht, wenn nun davon ausgegangen wird, dass bestimmte Schmerzphänomene eine Laune der Natur oder ein Fehler seien. Es gibt einen überaus großen Nutzen von Schmerz, und dieser lässt sich aus der Regulationslogik des Körpers heraus erklären. Bei den nachfolgenden Überlegungen zu einem Erklärungsmodell steht deshalb nicht ein „Fehler“ im System Körper im Vordergrund, sondern die Suche nach der „Sinnhaftigkeit des Schmerzes“ im Rahmen der Regulationslogik für den Betroffenen.
Zur Verdeutlichung des Schmerzphänomens werden an dieser Stelle zwei grundsätzliche Arten von Schmerzen unterschieden. Im Gegensatz zu der Einteilung der Schulmedizin, welche Schmerzen gewöhnlich nach dem Ort des Geschehens einteilt, erfolgt hier eine Differenzierung nach der Sinnhaftigkeit bzw. der Logik des Schmerzes:
1) Akutschmerz / Verletzungsschmerz
Hier handelt es sich um einen Schmerz, der seine Ursache in einer (akuten) Verletzung hat. Hier ist ein echter Schaden am Körper eingetreten. Das kann beispielsweise eine Verbrennung, eine Schnittwunde, oder ein Fremdkörper sein. Die Ursache des Schmerzes ist ein von außen zugefügtes Ereignis. Genau in diesem Fall ist es sinnvoll, dass das Bewusstsein über eine Empfindung direkt am Schmerzort mitteilt, an welcher Stelle genau es ein Problem gibt. Der Betroffene kann anschließend bewusst eine logisch-rationale Handlung dagegen unternehmen, wie einen Splitter zu entfernen oder einen Arzt aufzusuchen, der beispielsweise eine Wundverletzung nähen kann. Dies dürfte die Art von Schmerz sein, mit der ein Kind im Leben als Erstes konfrontiert wird.
Menschen neigen (vermutlich aufgrund dieser Kindheitserfahrung) auf der logischen Ebene oft vorschnell dazu, bei Schmerzen vom Zusammenhang „Schädigung oder Verletzung macht Schmerz“ auszugehen. Dieser Hintergrund könnte auch die Ursache sein, warum die Mehrzahl der Medizinwissenschaftler ihre derzeitigen Erklärungsmodelle zum Thema Schmerz darauf aufbauen. Die logische Folge ist, dass die meisten Schmerztherapien auf diesen Ursache-/Wirkungszusammenhang abgestellt werden. Behandlungen finden so vorzugsweise direkt am Ort des Schmerzgeschehens statt.
Nur ein kleiner Anteil von chronischen Schmerzpatienten ist mit dieser ersten Art von Schmerz konfrontiert – bei der primär eine äußerliche Ursache vorliegt. Es handelt sich hier in der Mehrzahl um Akutereignisse im Rahmen von Verletzungen. Ein Schädigungs-/Verletzungsschmerz kann auch auftreten, falls innere Erkrankungen bestehen. In diesem Fall ist die jeweilige Erkrankungsstelle mit dem Ort des Schmerzes ebenfalls identisch. Das Bewusstsein wird durch Gewebshormone, die beispielsweise bei einer Entzündung am Problemort ausgeschüttet werden, über den Krankheitszustand informiert und reagiert mit der Projektion eines Schmerzes auf die jeweilige Körperregion. Die Veränderung von elektrischen Potentialen in zerstörten Zellen und die Weiterleitung dieser Informationen über Nervenbahnen sind weitere Erklärungen für das Auftreten eines Schmerzes dieser Art.
Sinn dieser Schmerzart ist es grundsätzlich, den Betroffenen auf eine Gefahr, eine innere Erkrankung oder eine Verletzung aufmerksam zu machen und gegebenenfalls die Immunabwehr und Reparaturmechanismen in Gang zu bringen. Die Situation erschließt sich dem Menschen meist sofort logisch-rational und bringt ihn dazu, beispielsweise ärztliche Diagnostik einzusetzen, um die Schmerzstelle genauer zu untersuchen.
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