Jerusha schwieg einen Moment lang, dann sagte sie leise: „Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt. Dagegen sind Pfeile kein großer Schutz, oder?“
„Pfeile?“ hätte Kiéran fast gefragt, doch dann bemerkte er, dass sie einen Bogen über der Schulter trug. Er hatte das Ding schlicht übersehen, er sah es nur als schmale violette Linie in der Dunkelheit.
„Bitte reitet nicht alleine da durch“, sagte Kiéran eindringlich. „Am besten, Ihr wartet am Waldrand, bis eine größere Gruppe vorbeikommt und schließt Euch dieser an. Das kann allerdings ein oder zwei Tage dauern, im Moment ist auf der Straße hier nicht viel los.“
Sie schwieg kurz. „Ja, das werde ich wohl tun“, sagte Jerusha dann.
Gleich würden sie sich verabschieden. Und wahrscheinlich nie wiedersehen. Reyn ruckte schon wieder an den Zügeln, er wollte weiter.
„Wenn Ihr möchtet, begleite ich Euch.“ Moment, was hatte er da eben gesagt? Wenn er zur Quellenveste wollte, dann war das ein Umweg! Es war nicht seine Aufgabe, Beschützer einsamer junger Frauen zu spielen. Außerdem war er alles andere als sicher, ob er zum Beschützer taugte. Gegen einen Magier konnte ein einzelner Soldat fast nichts ausrichten. Und Kiéran hatte ja nicht einmal ein Schwert. Ganz abgesehen davon, dass er noch immer so gut wie blind war. Seltsam – er wollte nicht, dass sie das wusste.
Jerusha ließ sich Zeit mit der Antwort. Er konnte sich denken, was ihr durch den Kopf ging. Wahrscheinlich erschien es ihr als keine besonders gute Idee, sich mit irgendeinem Kerl zusammenzutun, den sie erst seit ein paar Stunden kannte. Das konnte auf eine ganz andere Art gefährlich werden als die Hindernisse im Wald von Sharedor. Und Kiéran wusste, dass er zurzeit nicht allzu vertrauenerweckend aussah.
Doch dann sagte Jerusha plötzlich: „Ja, ich glaube, das wäre schön. Liegt es denn auf Eurem Weg?“
„So gut wie“, log Kiéran. Ungebeten drängte sich der Gedanke in seinen Geist, dass sie sich von ihm vielleicht gute Geschäfte erhoffte. Würde sie am nächtlichen Lagerfeuer versuchen, sich ihm anzubieten? Sie konnte ja nicht wissen, dass er keinen rostigen Ulder mehr in der Tasche hatte. Schluss jetzt , dachte Kiéran wütend und zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Und auch nicht daran, dass er schon seit vielen Monden keine Frau mehr gehabt hatte.
„Wie erkennt man eigentlich diese Magier?“ fragte Jerusha.
„Tja, das ist das Problem.“ Kiéran zuckte die Schultern. „Meistens sieht man es ihnen nicht an. Man kann niemandem vertrauen in diesem Wald.“
Und wieso vertraute sie ihm? Nur, weil sie gestern das Essen miteinander geteilt hatten?
Sie ritten noch immer nebeneinander. Reyn war zwar ein Schurke, aber er war auch die Disziplin eines Regiments gewohnt – er duldete es, dass Kiéran ihn auf gleicher Höhe mit dem anderen Pferd hielt.
Kiéran war gespannt, wie ihm der Wald von Sharedor erscheinen würde. Normalerweise wirkte er wie eine dunkle Mauer am Horizont.
Diesmal konnte Kiéran ihn kaum erkennen, und er wirkte sehr viel weniger einschüchternd. Na, hoffentlich war das ein gutes Zeichen.
Jerusha hatte keine Ahnung, warum sie einfach Ja gesagt hatte. Vielleicht, weil dieser Mann sich bestens in der Gegend auszukennen schien. Und vielleicht, weil es sich einfach gut anfühlte, bei ihm zu sein.
Mit ihm zu reiten bedeutete zwar, dass sie in nächster Zeit kaum mit Grísho reden konnte, doch das musste eben warten.
Wiesen und Weiden wichen Bäumen. Niedrige, buschige Kiefern drängten sich zwischen hoch aufragenden Craunen und Lybaren mit dichten Kronen. Ein Teppich aus Nadeln, die im letzten Herbst abgefallen waren, bedeckte den Boden und dämpfte den Hufschlag ihrer Pferde. Jetzt ritten sie aufwärts. Felsgrate ragten aus dem Wald auf, und der Weg wand sich zwischen Klippen hindurch. Es roch nach Moos und feuchtem Stein. Die Wolken hingen tief an diesem Tag, und Nebelfetzen wehten zwischen den Baumwipfeln hindurch. Zum Glück gab es trotzdem noch genug Schatten, Grísho würde sie begleiten können.
„Was soll ich tun, wenn ich etwas Verdächtiges bemerke?“ fragte Jerusha nervös. Sie warf einen Seitenblick auf Kiéran. Er wirkte wachsam, seit sie den Wald betreten hatten, und ließ die Umgebung nicht aus den Augen.
„Abhauen. Zieht Eurem Pferd den Bogen über die Kruppe, bis es durchgeht. Dann habt Ihr eine Chance, rechtzeitig außer Reichweite zu kommen.“
Er knotete die Zügel zu einer Schlaufe, um beide Hände frei zu haben, dann holte er aus seinem Reisebündel einen eigenartigen, dunkelroten Panzer mit Stacheln an den Schulterstücken und begann, ihn sich während des Reitens umzuschnallen. Der Panzer hatte die gleiche Farbe wie Kiérans Umhang, und langsam wurde Jerusha klar, dass das Teile einer Uniform waren.
„Hilft vielleicht nichts, ist eher Gewohnheit“, meinte er.
Nun ließ sich Jerushas Neugier nicht länger bezähmen. „Wer bist du? Ich meine – was?“
„Ein Terak Denar.“
„Im Ernst?“ Mit gemischten Gefühlen blickte Jerusha ihn an. Sie hatte schon von ihnen gehört, den legendären Elitekämpfern der Fürsten von AoWesta. Doch sie wusste nicht genug über sie, um beurteilen zu können, welche Rolle sie in Benaris spielten. Waren sie Leibwächter, besonders gut ausgebildete Soldaten, Todesschwadron, Assassinen? Ihr kam wieder in den Sinn, was ihre Großmutter erzählte hatte. Waren es Terak Denar gewesen, die ihren Sohn Thimmes – Jerushas Onkel – aufgespürt und hingerichtet hatten?
„Aber was ist passiert? Wieso bist du allein unterwegs? Das ist nicht üblich, oder?“ Plötzlich fiel Jerusha auf, dass sie ihn duzte, und sie spürte die Hitze in ihr Gesicht steigen. Hoffentlich nahm er es ihr nicht übel.
Doch er blickte sie nur von der Seite an. Schätzte er gerade ab, wie viel er ihr erzählen konnte? „Tja, eigentlich hatte ich gerade so was wie ein paar freie Tage. Allerdings unfreiwillig. Ich bin bei einem Gefecht verletzt worden, und meine Leute mussten mich zurücklassen. Jetzt versuche ich, mich meinem Regiment wieder anzuschließen.“
Daher also die Narben , dachte Jerusha. Es muss furchtbar gewesen sein. Zurückgelassen? Sehr ungewöhnlich. Doch der Ton, in dem er das alles erzählt hatte, ermutigte nicht, weiter nachzufragen.
„Und du, wie hat es dich in diesen Gasthof verschlagen?“
Jerusha zuckte die Schultern. „Ich hatte nichts mehr zu Essen und brauchte das Geld. Aber es war nicht gerade die beste Erfahrung meines Lebens.“
„Kann ich mir vorstellen“, murmelte Kiéran.
Sie wollte ihm sagen, wie wichtig es für sie gewesen war, dass er gestern zu ihr gehalten hatte. Doch das Schweigen, das sich zwischen sie geschoben hatte, schien auf einmal undurchdringlich.
Wenig später kam ihnen ein Trupp von etwa zehn Kaufleuten und ihren Gehilfen entgegen; das Rattern ihrer Karren und das Schnauben der Zugochsen waren schon von Weitem zu hören. Als sie näher kamen, sah Jerusha Angst in den Augen der Männer und Frauen. Angst vor uns? Wie eigenartig. Sie haben Glück – wir sind keine Magier in Verkleidung. Oder fürchten sie sich vor Kiéran? In dieser Uniform und auf seinem Hengst sieht er aus wie Xatos persönlich.
Doch das Gegenteil war der Fall, die Kaufleute wirkten erleichtert, als sie Kiéran sahen.
„Wie weit noch bis zum Waldrand, Roter Wolf?“ rief ein breitschultriger, in Leder gekleideter Mann, wahrscheinlich der Führer der Kolonne. Er marschierte vor einem Wagen, der bis oben hin mit Fässern und Säcken beladen war. Die eisenbeschlagenen Räder waren fast so hoch wie ein Mensch, langsam holperten sie über den Boden, der von Wurzeln durchzogen war.
Kiéran hob grüßend die Hand. „Eine halbe Tagesreise – ihr habt´s bald geschafft. Ist irgendwas Besonderes vorgefallen?“
Читать дальше