Mareke trug den Vorschlag der neuen SOKO zur Personalaufstockung vor und Frau Weintraut zeichnete noch im Stehen das Anforderungspapier ab. Die Zeugenaussagen der Oldenburger Kollegen waren übereinstimmend und gaben nichts Auffälliges her, die Blutalkoholwerte waren nachgewiesen und Mareke bat alle Kollegen der ‚SOKO Glühwein’, darüber Stilschweigen zu bewahren. „Einige der Kollegen aus Oldenburg wären gut beraten, ein Gespräch mit einem Suchtbeauftragten zu suchen, das sagt alles“, meinte Mareke. „Aber, die Damen und Herren müssen wissen, was sie tun.“
Mareke sah ihre Assistentin an: „Was sollen wir machen?“ Frau Heist nahm ihre Jacke vom Haken. „Ich bekam gerade eine Mail vom Pathologen. Wir sollen doch einmal bei ihm in der Sache Glühweinbude vorbeischauen.“ Mareke stand ebenfalls auf: „Ich habe mein Postfach noch nicht angesehen. Glühweinbude ist gut. Wir fahren hin.“
Der Pathologe Doktor Holger Schreiber hatte neben der Gerichtsmedizin ein zweites Institut in seinem privaten Haus in Börßumerfehn. Dies lag etwas außerhalb von Emden in Richtung Moormerland-Warsingsfehn. Hier konnte der Gerichtsmediziner seine ungeklärten Fälle frei von der Tageshektik, die eine Gerichtsmedizin mit sich bringt, erforschen und untersuchen. Mareke war noch nie in diesem privaten, pathologischen Institut gewesen und war dementsprechend aufgeregt, was sie wohl erwarten würde.
Die Ehefrau öffnete. Im Garten spielten die Nachbarskinder. Sie lächelte: „Kommen Sie beide herein, die Nachbarn kennen die Arbeit meines Mannes und es wundert sich hier keiner mehr, wenn Leichenwagen vorfahren. Ist halt normal und gehört zum Leben dazu.“ Mareke lächelte unsicher und dachte‚ daran müsste ich mich als Nachbarin auch erst gewöhnen’.
Frau Schreiber brachte den Besuch in den Keller und rief laut: „Liebling, dein Besuch ist da.“ Der Pathologe öffnete seine Tür und helles Neonlicht fiel in den Vorraum. „Da sind Sie ja, herzlich Willkommen bei mir. Haben Sie keine Furcht, hier ist alles normal, wie in der Gerichtsmedizin. Hier geistern keine zusammengesetzten, ehemaligen Menschen durch die Räumlichkeiten.“
Marlies gruselte sich trotzdem bei dem merkwürdigen Ausdruck ‚ehemalige Menschen’. Warum sagte er nicht einfach Leichen? Herr Schreiber nickte ihnen zu und sie gingen in den Raum, nachdem sie sich Plastiküberschuhe und Kittel anzogen hatten, die ihnen Herr Schreiber überreicht hatte. Als sie im Sektionsraum waren, lag die Leiche der Frau Sieglinde Hartkopf auf dem Tisch mit dem Kopf zu ihnen gewandt. Mareke und Marlies gingen langsam an den Tisch heran und warteten auf den Pathologen, der das Deckenlicht ausschaltete, das Licht an dem hellen Übersichtsmonitor anstellte und ein Röntgenbild und ein Foto einer Hand an den oberen, beleuchteten Rand steckte.
„Sehen Sie, das ist die rechte Hand der Dame, die an dem Glühweintisch auf dem Weihnachtsmarkt am Emdener Hafen verstarb. Ich habe mehrfach die Zeugenaussagen gelesen, die Sie mir freundlicherweise aus der Polizeiakte als Kopien einreichten und sehen Sie hier, ich zitiere die Aussage einer Beamtin von der Drogenfahndung, die wohl aufgrund ihres Berufes einen schärferen Blick für das vordergründig Unwichtige im Leben hat. Sie sagte aus: Wir standen alle ausgelassen und einige sichtbar angetrunken an zwei zusammengestellten runden Stehtischen, die üblicherweise auf Weihnachtsmärkten vorhanden sind, und tranken Glühwein. Dann wollte die Frau Polizeipräsidentin Hartkopf eine Runde ausgeben. Aber da widersprach ihr heftig die Oldenburger Polizeipräsidentin Frau Weintraut. Frau Hartkopf wäre schließlich der eingeladene Gast und sie würde nun diese Runde ausgeben. Dann sammelte sie die Becher zusammen und fragte, wer zum Tragen mit an den Glühweinstand gehen würde. Sie sagte noch scherzend, das Pfandgeld entfiele ja beim Tausch der Becher. Zwei männliche Beamte von uns gingen mit. Nach einer Weile kamen sie zurück, denn am Stand herrschte großer Andrang und es dauerte eben lange bis alle Becher gefüllt waren. Sie kamen mit mehreren Tabletts zurück und verteilten die heißen Becher auf dem Tisch. Frau Weintraut stieß sehr heftig zum Prosten mit dem Becher der Frau Hartkopf an, wobei der heiße Glühwein über den Handschuh dieser Dame schwappte. Frau Weintraut entschuldigte sich für das Missgeschick und wischte mit einem Herrentaschentuch den Handschuh an der Hand ab . Zitat Ende.
Nun, ich habe bei dieser Dame hier auf meinem Tisch einen Blutalkoholspiegel von 1,6 Promille festgestellt und gebe zu bedenken, dass es sich um den wahren Wert handelt, denn ein toter Mensch kann naturgemäß keinen Alkohol mehr im Körper abbauen, wenn man die langsame Verwesung bei einem gerade verstorbenen Menschen in den ersten Stunden außer Acht lässt, die nicht ins Gewicht fällt. Bis auf einen kleinen Miniwert vielleicht, das ist aber grundlegend bei kurz Verstorbenen noch nicht erforscht worden. Das sollte ich vielleicht mal machen, wenn ich in Pension bin.“
Doktor Schreiber schob die Brille hoch und sah die beiden Damen an, die ihm gespannt weiter zuhörten, als er sich drehte und wieder auf das sehr scharfe Bild der Hand zeigte. „Nun, Sie sehen hier auf dem Foto einen kleinen, fast unmerklichen Einstich auf dem Handrücken.
Ich habe natürlich vorher das Blut und das Gewebe der Leiche untersucht und das Herz von einem Kardiologen begutachten lassen. Nach dem Kollegen vor Ort diagnostizierte auch er einen Herzinfarkt, alle Anzeichen sprachen dafür, die Körperhaltung, die Hautfarbe! Auf dem ersten Blick deutete also alles auf einen Herzinfarkt hin. Doch was war die Ursache? Das Herz war gesund, ich habe mich mit dem Hausarzt von Frau Hartkopf über ihren Gesundheitsstatus unterhalten. Sie hatte nie über Herzprobleme geklagt. Natürlich kann ein Infarkt durch verschiedene Gegebenheiten plötzlich kommen.
Doch in dem Gewebe und im Blut entdeckte ich Spuren eines Giftes. Um sicher zu sein, holte ich einen Toxikologen zur Leichenschau dazu. Der Bericht liegt vor. Hier wird eindeutig festgestellt, dass eine Tachykardie, also ein Herzrasen vorlag, der zum Tode führte. Doch was war der Auslöser? Der Glühwein bestimmt nicht, auch wenn er gepanscht sein sollte, denn die Budenbesitzer wollen Geld und keine toten Kunden. Nein, wir sind nach diversen, zum Teil komplizierten Versuchen dem Gift auf die Schliche gekommen.
Es handelt sich um unsere heimische Eibe, ein Baum, der in vielen Gärten steht, bis zu zwanzig Meter hoch wird und deshalb beliebt ist, weil er immergrün ist. Die Eibe gibt einmal im Jahr kleine rote Früchte ab, kleine Kügelchen. Diese sind aber nicht giftig. Sondern hochgiftig sind die vorher entstehenden, kleinen, grünen Samenmäntelchen, aus dem später einmal die rote Frucht wird. Außerdem sind die Rinde der Eibe sowie die Tannennadeln stark giftig. Man muss also diese drei Sachen der Eibe als eine Art Pampe in großen Mengen essen, um daran zu sterben. Oder man kocht einen Sud, zieht den auf eine Spritze oder Giftpfeil und tötet somit einen Menschen.
Das Gift kam über einen Stich in die Hand in den Körper der Frau Hartkopf. Es vergeht eine gute halbe Stunde, dann wirkt das Gift. Man bekommt Atemnot, Schweißausbrüche, Herzrasen und, wenn nicht augenblicklich ein Kardiologe mit Gegenmitteln zur Herzstabilität eingreift, ist der Exitus letales unausweichlich. Die Frau Polizeipräsidentin Weintraut, die, wie ich mitbekam, die Kollegin aus Bremen zum Weihnachtsmarkt nach Emden einlud, holte eine Lage Glühwein, stieß mit ihr heftig an den Becher an, tupfte mit einem Herrentaschentuch deren Hand ab. In diesem Taschentuch war vorher wohl eine manipulierte Spritze mit dem Gift versteckt. Die stach sie kurz beim Abtupfen in die Hand der Frau Hartkopf und nun liegt sie hier!“
Mareke und Marlies sahen sich ungläubig an. Marlies fand als erste wieder Worte: „Das Verbrechen soll eine Polizeipräsidentin an einer anderen Polizeipräsidentin vorgenommen haben? Das gab es in der Kriminalgeschichte in Deutschland noch nie!“ Doktor Schreiber löschte das Licht an dem Bildschaukasten: „Ja, einmal ist immer das erste Mal. Diese Plattheit hat etwas Philosophisches an sich. Bringen Sie mir das Herrentaschentuch der Frau Weintraut und ermitteln Sie, ob sich die Damen womöglich im beruflichen Sektor doch nicht so gut verstanden. Berufseifersucht, oder war derselbe Mann im Spiel? Das Lebensspektrum ist weit für Morde. Aber das wissen Sie am besten. Wenn meine Kunden hier auf dem Metalltisch doch ein letztes Mal plaudern könnten, hätten wir die Fälle schneller geklärt, zumindest die meisten Fälle.“ Mareke bekam eine Gänsehaut und Marlies sah auch nicht besonders glücklich aus, als sie leise sagte: „Was machen wir bloß?“
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