Manchmal beneidete er seinen achtjährigen Bruder um sein Aussehen und seine kultivierte Art. Aber zugegeben hätte er das niemals.
Obwohl erst sechzehn Jahre alt, war Stefan groß, breit und schon ziemlich muskulös. Die dunklen Haare hatte er ebenso von seinem Vater geerbt wie die kalten grauen Augen, die füllige Figur und das dickliche Gesicht.
Er hasste seinen Bruder, neidete ihm die Eleganz, mit der sich dieser bewegte, missgönnte ihm das schmale, gut geschnittene Gesicht mit der edlen Nase und dem schön geschwungenen Mund. Ja, Kevin kam ohne Zweifel der Familie seiner Mutter nach. Alles Spinner wie sein Alter abfällig sagte. Stefan wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sein Vater ihn anrempelte.
„Was is’? Willst du hier übernachten? Nein? Dann fass gefälligst mit an. Wenn wir fertig sind, saufen wir zu Hause ordentlich einen“, versprach Paul.
„Was machen wir mit Kevin?“, wollte Stefan wissen.
„Allein sind wir beide zusammen wohl besser dran, oder?“, knurrte sein Vater.
„Und wie?“, fragte Stefan und griff nach seinem Springmesser, das er stets in der Hosentasche bei sich trug.
„Das, oder Genickbruch wie bei deiner Alten“, meinte Paul.
„Is’ noch besser“, erwiderte Stefan und steckte das Messer wieder ein.
Kevin sah wie erstarrt zu, als sie seine in den Teppich eingerollte tote Mutter aus dem Wagen zogen. Er hatte gehört, was sein Vater und sein Bruder gesagt hatten. Aber die Gefahr, in der er schwebte, drang nicht zu ihm durch.
Doch plötzlich war ihm, als spräche seine Mutter zu ihm:
Liebling, du bist in Gefahr. Du musst fliehen, sonst töten sie dich. Ich liebe dich und werde immer bei dir sein. Flieh, Liebes! Tu es mir zuliebe.
„Mama?“, flüsterte Kevin. „Mama, bist du es?“
Ja, mein Herz. Ich bin bei dir, werde immer bei dir sein. Aber jetzt musst du gehen. Warte nicht länger. Geh! Geh sofort!
Und Kevin sprang auf. Drei Schritte und er hatte die Öffnung erreicht. Er sprang in den Sand und lief davon.
„Er haut ab!“, grölte Stefan und jagte hinterher.
Kevin lief wie im Traum. Immer weiter, immer weiter. Doch wohin? Links von ihm wogte das Meer, vor ihm und rechts von ihm war nichts als Sand. Kein Mensch, kein Haus weit und breit. Wo sollte, wo konnte er hin?
Und hinter ihm keuchte sein gewaltbereiter Bruder heran.
Komm zu uns, Kevin, lockten die Wellen. Bei uns ruhst du wie in einem Daunenbett so friedlich und so weich. Zögere nicht. Lass dich fallen, fallen wie in die weichen Arme deiner Mutter. Komm Kevin, komm.
Und Kevin zögerte nicht. Er lief einige Meter weit ins Wasser hinein, warf sich in die sanft wogenden Wellen und schwamm davon.
„Mama?“, flüsterte er. „Mama, ich komme zu dir.“
Ja, mein Herz, wisperte es. Komm in meine Arme.
Kevin schloss glücklich die Augen und lächelte wie im Schlaf.
Stefan stand am Wasser und starrte aufs Meer hinaus. Von seinem Bruder war in der hereinbrechenden Dunkelheit nichts zu sehen. Wahrscheinlich war er bereits ertrunken, denn wohin hätte der Blödmann auch schwimmen sollen.
So viel Courage hätte er dem Weichei gar nicht zugetraut. Nahm sich so mir nichts dir nichts das Leben. Na ja, sie hätten ihn ja sowieso ertränkt! Stefan drehte sich um und ging zurück.
„Das wäre erledigt“, sagte er.
Paul Ziegler nickte. Gemeinsam gingen sie zum Wagen, vor dem noch immer die Teppichrolle lag. Sie holten ihr Boot, legten den Wagenheber und die Teppichrolle hinein und fuhren ein Stück hinaus aufs Meer.
Nachdem alles erledigt war, ruderten sie zurück zum Strand, stiegen in den Lieferwagen und fuhren zurück.
„Kommst du mit deinem Buch voran, Liebling?“, fragte Elena ihren Mann beim Frühstück. „Ich bin schon wahnsinnig gespannt darauf, um was es in deinem neuen Roman geht.“
Adrian Verhoeven musterte seine Frau schweigend.
„Was ist? Habe ich einen Fleck auf der Nase?“, scherzte Elena.
„Nein, hast du nicht“, erwiderte er lächelnd. „Du siehst in diesem Kostüm einfach fantastisch aus. Es passt perfekt zu deinen blauen Augen und deinem langen blonden Haar.“
„Du Schmeichler. Aber ich freue mich über das Kompliment“, erwiderte Elena. Sie schob den Stuhl zurück und stand auf.
Adrian musterte ihre schlanke Figur und die langen Beine, die in den hochhackigen Pumps besonders gut zur Geltung kamen. Alles an Elena war freundlich und hell.
Adrian, ebenfalls schlank, fast schon hager, zupfte einen Fussel von seinem schwarzen Pullover und sah auf seine eleganten Schuhe, schwarz, wie fast alles, was er trug. Er lächelte.
„Ich muss los“, sagte Elena. „Ich muss den Laden heute aufschließen, weil Arlena einiges für unseren Besuch vorzubereiten hat. Du weißt schon, dieser amerikanische Verleger. Ich erzählte dir von ihm. Arlena lernte ihn damals bei ihrem Besuch in Amerika kennen.“
Adrian nickte.
„Ich hoffe, dein zweites Buch wird ein genauso großer Erfolg wie dein erster Roman“, sagte Elena. „Wir könnten das Geld gut gebrauchen.“
Adrians Gesicht verschloss sich. „Ich tue mein Bestes“, murmelte er.
„Das weiß ich doch, Liebling“, erwiderte Elena. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und eilte davon.
Wenige Minuten später hörte Adrian ihren Wagen die Auffahrt runterfahren. Er trank seinen Kaffee aus und ging ins Wohnzimmer hinüber.
Stolz musterte er die elegante Einrichtung. Die schwarze Designer Ledergarnitur und der handgeknüpfte Seidenteppich waren ebenso exquisit wie die dunklen Schrankelemente und die modernsten Geräte aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik. Echte Gemälde und kostbares Dekor rundeten das Ganze ab.
Oh ja, er hatte es weit gebracht. Sein erster Roman war ein unerwarteter Erfolg gewesen, war innerhalb einer Woche unaufhaltsam in den Charts hochgeklettert. Allerdings war das nun schon gut zwei Jahre her. Ein weiterer Erfolg war dringend nötig, denn so langsam ging ihnen das Bargeld aus.
Adrian seufzte. „Nur gut, dass Elena als Geschäftsführerin bei ihrer Freundin Arlena untergekommen ist“, dachte er laut. Die bekannte und beliebte Buchhandlung hatte zehn Angestellte und lief ausgesprochen gut. Elenas Gehalt deckte zwar die Kosten, große Sprünge konnten sie jedoch nicht machen.
Allerdings leben wir trotzdem weitaus besser, als so manch anderer, dachte Adrian so einsichtig wie selten. Und a ußerdem besitzen wir ja immerhin auch noch das Haus. Er runzelte die Stirn bei dem Gedanken, dass ein Verkauf der Villa sie auf einen Schlag aller Sorgen entledigen würde. Zu seinem Ärger war Elena jedoch strikt dagegen. In dieser Sache war nicht mit ihr zu reden.
Er begab sich zu der Fensterwand hinüber. Nachdenklich starrte er in den parkähnlich angelegten Garten. Elena hatte das Haus, welches auf einem weitläufigen Grundstück in einer der besten Gegenden Hamburgs stand, von ihrer Mutter geerbt, die kurz nach der Hochzeit ihrer einzigen Tochter tödlich verunglückt war.
Er mochte die Bauweise, die etwas verspielt wirkende Architektur des mit Balkonen und Erkern verzierten Bauwerks, fühlte sich wohl in dem kleinen Turm, der die Villa krönte und in dem sich sein Arbeitszimmer befand. Aber obwohl er das Wohnen in dieser angesehenen Gegend genoss, würde er, wenn es nach ihm ginge, die Villa sofort verkaufen, um endlich die Geldsorgen loszuwerden.
Anna Kaiser, seine verstorbene Schwiegermutter, würde sich zwar im Grabe umdrehen, denn sie hatte die Villa geliebt. Doch das tangierte ihn nicht, denn sie hatte ihn von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an abgelehnt. Mehr noch, sie war regelrecht entsetzt über Elenas Entschluss gewesen, ihn zu heiraten.
Doch Elena hatte zu ihm gehalten.
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