Vitus nahm Loana bei der Hand und zog sie auf seinen Schoß. »Du meintest sicherlich die Autobahn mit der Bezeichnung A52 , meine Schöne, denn eine Straßenbahn ist gar keine Straße, sondern ein Vehikel, das auf Schienen dahingleitet.«
Loanas Blick wurde weich, bevor sie kicherte, allerdings keinen Kommentar zu ihrem Versprecher abgab. »Keine Sorge, Anna, es gab natürlich keinen solchen Unfall. Bis diese Leute das feststellen, hast du erst mal Ruhe. Danach denken wir uns etwas Neues aus.«
Während sie das sagte, neigte sie den Kopf zur Seite und betrachtete Anna mit ihren grünen Augen. »Wir dachten, du könntest noch etwas Gesellschaft gebrauchen und eventuell ein Stückchen Kuchen. Aber, wie ich sehe, wurdest du bereits versorgt.« Sie legte die Hände schützend um ihren kleinen runden Bauch, wie es so typisch für schwangere Frauen war.
»Na ja, ihr schafft es bestimmt, den Kuchen auch ohne mich aufzuessen«, erwiderte Anna in leicht ironischem Ton und freute sich riesig über den großen Zuspruch. »Ich könnte euch einen Kaffee dazu kochen.«
»Kommt gar nicht in Frage. Das übernehmen Ketu und ich. Kommst du?« Viktoria zog ihren Wachmann vom Stuhl und schob ihn in Richtung Küche.
So unterhielten sie sich angeregt bei Kaffee und Kuchen, um Anna abzulenken. Dabei sprachen sie über alles Mögliche, nur nicht über den Prozess.
Vitus hatte bislang so gut wie nicht gesprochen, was eher untypisch für ihn war. Er wirkte nachdenklich, sogar zerknirscht. Als er dann nicht einmal protestierte, weil Loana sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, hob diese erstaunt eine Braue und trank eilig noch einen Schluck, wobei sie vorsichtig in seine Richtung schielte. Sie schien zu befürchten, dass er es vielleicht doch mitbekäme. »Was geht dir durch den Kopf, Vitus? Du scheinst mit deinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein?«
»Hm?« Vitus sah sie zunächst geistesabwesend an, bevor er sie milde anlächelte, so wie ein Vater sein ertapptes Kind. »Oh, nicht gerade meilenweit entfernt, Kened , und vor allen Dingen nahe genug, um deinen Kaffeekonsum zu registrieren. Und die zweite Tasse sei dir heute mal gegönnt.« Sie seufzte und er lächelte erneut, wurde dann aber ernst. »Ich habe tatsächlich nachgedacht und frage mich, wie es Anna gelungen ist, sich meiner sowie Viktors beruhigenden Kraft zu entziehen und diesen Mann zu ohrfeigen. Außerdem hat sie sowohl Richter als auch Rechtsanwalt empathisch manipuliert.«
Er musterte Anna eingehend. »Du warst wirklich gut. Ich habe in diesen paar Momenten fast nichts von dir wahrnehmen können. Deine Reaktionen selbst waren zwar erfassbar: Deine Ohrfeige. Deine Entschuldigung beim Richter. Deine Blicke zu dem Winkeladvokaten. Aber ansonsten hattest du den Geist völlig versiegelt, bis du dich endlich entspannt und nur noch auf die Fragen des Vorsitzenden und der Anwälte konzentriert hast.«
Vitus setzte ein süffisantes Grinsen auf. »Den Geist derart zu verschließen, gehört nicht gerade zu deinen Stärken.«
Anna überlegte. Wenn man sie schon auf ihr Verhalten im Gerichtssaal ansprach, so sollte sie nun tatsächlich genauer darüber nachdenken. »Ich weiß nicht, wie und warum das passiert ist. Eigentlich war ich ganz ruhig, dachte ich jedenfalls. Aber dann hatte ich urplötzlich eine unglaubliche Wut im Bauch. Deshalb konnte ich euch in dem Augenblick wohl nicht mehr spüren. Das lässt sich also einigermaßen logisch erklären. Na ja, soweit man bei Elfenmacht von Logik sprechen kann.«
»Tut mir leid, Silvi, dass wir das jetzt doch noch durchkauen«, wandte sie sich an Jens‘ Freundin. »Aber ein paar Antworten in dieser Sache fänd ich schon interessant.«
Silvi winkte lässig ab. »Mach nur. Ich höre zu. Mich interessiert das genauso.«
»Danke, das ist echt lieb von dir. – Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich hatte plötzlich eine Stinkwut und aufgrund eben dieser Wut hab ich mich offenbar mental komplett abgekapselt. Und dann … Ich wollte mich auf keinen Fall bei diesem, sorry, Arschloch entschuldigen. Nein, so etwas hätte ich nie und nimmer über die Lippen gebracht. Nichts und niemand hätten mich dazu zwingen können. Außerdem hätte ich es total ungerecht gefunden, wenn mich der Richter für die meines Erachtens durchaus berechtigte Ohrfeige bestraft hätte. Zitt hatte die Ohrfeige nämlich, weiß Gott, mehr als verdient. Hhm, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, dann fällt mir ein, dass ich all diese Dinge im Kopf hatte, als ich den Richter und danach den Anwalt angesehen habe.« Sie überlegte kurz. »Kann das denn sein? Hab ich meine Gedanken auf sie projiziert und sie damit beeinflusst?«
»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte Vitus ernst. »Du hast ihnen sozusagen unbewusst deinen Willen aufgezwungen. Das ist Suggestion und geht tief in die elfische Macht, Tochter. Und damit du deine Macht in die richtigen Bahnen lenken kannst, werde ich dich unterrichten.«
Er schaute Anna mit seinen intensiven Augen bis tief in ihre Seele. Seine strenge Miene ließ keine Widerrede zu, wurde ihr klar. »Ja, das ist eine wirklich gute Idee. Findest du nicht auch, Anna? Ich werde dich unterrichten, dich – und Viktor – und …«, nun wanderte sein Blick zu Viktoria, »… dich natürlich auch. Mal überlegen, ja, einmal pro Woche sollte genügen. Am besten führen wir einen speziellen Tag dafür ein. Einen, an dem Lena zu Loana gehen kann, um von ihr mehr über die Heil- und Kräuterkunde zu erfahren.«
Wie so oft, wenn er nachdachte, trommelte Vitus mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. Dann sah er unvermittelt zu Jens. »Du könntest auch dazulernen. Natürlich nur, falls du es willst und deine Freundin sich nicht ängstigt.«
»Tja«, meinte Jens verlegen.
Nach einem Blickwechsel mit Silvi zuckte die mit den Achseln, sagte aber in aufrichtigem Tonfall: »Ich werde mich niemals vor dir ängstigen, Jens. Du hast zum Teil elfisches Blut in dir und dadurch besondere Gaben mit in die Wiege gelegt bekommen. Es wäre Frevel, die nicht zu nutzen. Das wäre fast so, als ob Eltern verschiedener Nationalitäten ihr Kind nicht zweisprachig erziehen und ihm daher eine Sprache, eine Kultur, ja, eine halbe Identität vorenthalten würden.« Sie hob die Hände, als Jens etwas sagen wollte. »Also, lerne deine ganze Identität kennen und zu nutzen.«
Anna war beeindruckt von diesem Statement und von Jens, der Silvi an der Hand zu sich zog, um sie zu küssen. Seine grauen Augen durchdrangen mit ihrem Blick Silvis rehbraune.
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