Der Umstand des andersartigen Lernens erregte sofort die Aufmerksamkeit der Pis. Da das Gehirn der Pis mit Wissen vollgestopft ist, haben sie nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit in ihrem Kurzzeitgedächtnis. Dieses reicht nur für 30 Minuten und sie müssen alle Informationen in der großen Datenbank speichern. Um auf diese Informationen zugreifen zu können, tragen sie vor ihrem rechten vorderen Auge einen kleinen Bildschirm, auf dem immer situationsbezogen die wichtigsten Informationen dargestellt werden, da neu eingegebene Informationen erst der nächsten Generation eingepflanzt werden. Aus diesem Grund tragen sie ständig ein kleines Handgerät bei sich, in dem sie alle Informationen eingeben. In letzter Zeit häuften sich immer wieder Probleme mit dem Wissen, dass sich Fehler einschlichen oder manche Pis irgendwas vergessen haben. Das führte dazu, ein Projekt zu gründen, welches die Lernmöglichkeiten anderer Spezies erforschen soll. Da außer ihrer eigenen Spezies den Pis nur noch die Menschen bekannt waren, die ähnlich weit entwickelt waren, fiel ihre Wahl auf diese. Bei der Analyse der Daten, welche die erste Erkundungsmission von der Erde nach Tau Ceti zurückbrachte, stießen die Pis auf Prof. Dr. Schwencker. In mehreren Datensätzen, welche sie aus dem elektronischen Datenverkehr der Erde aufgefangen hatten, wurden die Veröffentlichungen von Professor Schwencker auf den Gebieten Sozialforschung und der Lerntheorie als Referenz angegeben. Daraus schlossen die Pis, dass genau dieses Projekt, wie sie die Einrichtung des Lehrstuhls, den der Professor inne hatte, nannten, die effizienteste Art war, die Menschen zu erforschen und gleichzeitig etwas über andere Lernmethoden zu erfahren. Aus Gründen der Effizienz, der möglichst hohen Geheimhaltung und dem Umstand, dass ohne Professor Schwencker es kein Projekt gab, entschlossen sich die Pis anstatt des Professors ein Mitglied seines Projektes zu beobachten.
„Hallo schöne Frau! Können wir Sie irgendwo hinfahren?“
„Aber nur, wenn ihr es mir ordentlich besorgt!“
„Geht klar! Spring rein!“
Nele, die immer noch dieselbe Hotpants wie heute Mittag trug, warf ihre Tasche auf die Rückbank und sprang mit zwei Flaschen Bier in der Hand in das Auto. Eine Flasche reichte sie gleich Tom.
„Man gut, dass du kein Alkohol trinkst. Sonst müssten wir ja immer laufen“, sagte Nele an Paul gewandt und prostete sich mit Tom zu.
„Ja, auf die anonymen Antialkoholiker“, äffte Paul seine Freunde nach.
Ein Jahr Führerscheinentzug und der so genannte Idiotentest, auch bekannt als Medizinisch-Psychologische Untersuchung, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, jedenfalls was den Alkohol anging. Seitdem er bei einem Autounfall mit 3,14 Promille sein erstes Auto und einen Baum mit dazugehörigen Busch in den Himmel für künstliche und natürliche Gegenstände geschickt hatte, rührte er keinen Schluck Alkohol mehr an.
,Und so soll es auch bleiben‘, dachte Paul und streichelte in Gedanken seinen Joint, der in der Hosentasche auf ihn wartete.
15,45 Minuten und ein weiteres Bier für Nele und Paul später kamen sie in der Wohngemeinschaft, im Studentenjargon WG genannt, in Göttingen an. Schon bei der Parkplatzsuche im Quadrat um den Wohnblock hörten sie über den Balkon Musik und laute Stimmen. „Wenn nicht jetzt, wann dann…“ tönte Zeilen eines Schlagerliedes.
„Oh nein, vor `ner Flasche Korn keine Sportplatzmucke“ seufzte Nele und drückte auf den obersten Klingelknopf bei Hase/Fuchs/Rabe/Vogel - die Tier-Wohngemeinschaft, kurz die Tier-WG.
„Hallo?“ ertönte eine weibliche Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Wir sind's…“ antwortete Nele und öffnete die laut summende Tür.
Langsam stiegen sie den Worten „Über den Wolken…“ in den vierten Stock entgegen. Paul streichelte nicht nur virtuell seinen Joint, sondern auch seinen MP3-Player, den er unverzüglich an die nächste Musikanlage anschließen musste.
Endlich, völlig außer Atem in der Tier-WG angekommen, begrüßten sie erst einmal ihre Freunde im Wohnzimmer und die restlichen Leute in der Küche, die gleich beim mit Getränken gefüllten Kühlschrank standen.
„Hey Nele, wie schaut‘s aus?“ rief eine Rothaarige.
Noch bevor Nele eine ruhige Atmung wieder erlangt hatte, war sie in ein Gespräch über die Klassiker der Soziologen im Vergleich zu den modernen Soziologen verwickelt und Paul um die Ecke ins Wohnzimmer gebogen. Erstens musste er die Anlage auf vernünftige Musik trimmen und zweitens schnell den Joint rauchen, bevor er merkte wie voll seine Freunde waren. Er war nicht der erste mit dieser Idee. Auf dem Balkon standen schon Oskar, Steffen und Torben und eine große Qualmwolke. Paul stellte sich hinzu und steckte seinen Joint an und schaute dem Qualm nach, der in den Himmel stieg.
„Paul, wir wollen los!“ hörte Paul eine Stimme.
„Was macht ihr denn für ‘n Stress?“ antwortete Paul langsam. „Wir sind grad mal ein paar Minütchen hier….“
„Hallo? Es ist jetzt schon Mitternacht vorbei!“
,Hm, die letzten drei Stunden sind aber schnell vergangen. Oder war ich einfach langsamer?‘ dachte Paul. ,Egal.‘
Wie in Zeitlupe setzte sich Paul in Bewegung und ging auf die Stimme zu, die sich Tom zuordnen ließ.
„Wo ist Nele?“ fragte Paul.
„Die ist noch in der Küche und bekämpft die letzte Pfütze aus der Kornflasche während sie versucht, sich Torben vom Hals zu halten. Irgendwie ist der ganz schön scharf auf Nele, aber Nele so gar nicht auf ihn“, kicherte Tom durch das Wohnzimmer gehend.
Als Paul und Tom vor der Küchentür ankamen, waren schon alle bereit, aufzubrechen. Was übersetzt bedeutet: Alle waren voll bis zum Kragen. Ein Teil der Gäste stand bereits im Hausflur. Ein anderer Teil zog sich gerade im viel zu engen Flur die Schuhe an. Feuchtfröhlich begaben sich die Freunde und die anderen Partygäste inklusive der Tier-WG das alte Treppenaus hinunter, um sich auf den Weg zur Sommerparty im Kellnerweg zu machen. Eine Party, die zweimal im Jahr an der Fakultät für Naturwissenschaften stattfindet und zwei große Vorteile hat: keinen Eintritt und Getränke können problemlos mitgebracht werden.
Zwölf Minuten und drei Nebenstraßen rechts-links-geradeaus-links-geradeaus auf dem Weg zur geilsten Studentenparty später war die Hauptstraße von sechs Polizisten abgesperrt. Paul, Tom und die anderen männlichen Feiernden waren gerade dabei, links in die Seitenstraße abzubiegen, während sie die Tatsache belächelten, dass es in Göttingen mittlerweile menschliche in Uniform verpackte Straßenabsperrungen gab. Der weibliche Anteil der Gruppe hatte offensichtlich anderes im Sinn. Die Frauen gingen ohne eine Tempoverlangsamung auf die Polizisten zu.
„Oh nee, jetzt fragen die wohl volltrunken die Bullen, warum sie die Straße absperren!“ seufzte Tom.
Paul lächelte nur: „Naja, vielleicht nehmen sie die Mädels mit und wir haben ‘nen entspannten Männerabend!“
Alle lachten. Jedoch verstummte das Lachen so schnell wie es anfing. Mit runzelnder Stirn und weit aufgerissen Augen sahen sie zu, wie die Frauen sich vor das Polizeiauto in Position stellten, während sich die Polizisten sich zwei Meter nach vorn von diesem entfernten.
„Das darf doch nicht wahr sein“, schrie Paul.
„Was machen die da? Wollen die das Auto entführen?“ wunderte sich Torben.
„Also nach dem Grund der Straßensperre scheinen die auch nicht zu fragen!“ fasste Oskar die Situation in Sekundenschnelle zusammen.
„Nee, ich fass es nicht. Die lassen sich von den Polizisten vor dem Auto fotografieren!“ stellte Tom schliesslich fest.
Der Rest der männlichen Gruppe schüttelte ungläubig den Kopf und konnte ein weiteres Stirnrunzeln nicht verkneifen, als die Frauen schon wieder auf dem Weg zu ihnen waren.
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