»Ich wünsche Ihnen, dass das alles schnell vorbei ist«, entgegnete Jack und meinte es ehrlich.
»Das hoffe ich.«
»Wie lange bleibt die Schule geschlossen?«
»Eine Woche.«
Jack nickte mitfühlend.
»Aber das macht mir nichts. Zu tun gibt es immer was. Und wenn mal alles ruhig ist, kann ich mich auch um die Reparaturen kümmern, die sonst hinten anstehen müssen«, erklärte Liberman.
»Wissen Sie denn, was man den Eltern für einen Grund für die Schließung genannt hat?«, fragte Jack.
Sein gegenüber lachte trocken. »Defekte Heizungsanlage.«
Das war clever. Und es freute Jack; denn durch diese Ausrede wusste er, dass sich die Polizei noch nicht so schnell an die Presse wenden würde. Er hatte also noch etwas Zeit. Er holte seinen Notizblock hervor und überprüfte, ob er schon alles abgearbeitet hatte, was er fragen wollte. Zwei Dinge fielen ihm noch ins Auge.
»Sagen Sie, wie sind der oder die Täter in den Keller gelangt? Haben Sie da eine Theorie?«
Liberman überlegte kurz und schob sein Kinn vor. »Die müssen auf jeden Fall durch das Außentor gekommen sein. Wenn man von innen in den Lagerraum will, muss man mindestens vier Türen aufsperren und die waren alle abgeschlossen.«
»Das Außentor nicht?«
»Das habe ich nicht überprüft. Da hatte ich gar keine Nerven mehr dafür, nachdem ich die Leichen…«
Er brach ab und Jack nickte verstehend.
»Vielleicht kann ich hier nochmal bei Macintosh ansetzen.« Ein wichtiger Punkt stand noch auf seiner Liste. »Ich habe nur noch eine Frage, dann lasse ich Sie auch schon in Ruhe«, versprach er.
Liberman sah ihn mit erschöpftem Blick an. »Hm?«
»Mir wurde zugetragen, dass die Täter eine Nachricht hinterlassen haben.«
Das Gesicht des Mannes zeigte Erstaunen. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe meine Quellen. Also stimmt es?«
Nach kurzem Zögern nickte Liberman. »Ja, da war was mit Kreide auf die Innenseite des Tors geschrieben.«
»Was stand da?« Jack beugte sich unwillkürlich etwas nach vorne.
»Es waren Zahlen.«
»Was für Zahlen?«
Ein Seufzen. »Dreiundachtzig Schrägstrich Neunundachtzig. Und dann noch darunter null-acht«
Obwohl das Diktiergerät weiter aufzeichnete, notierte Jack sich diese Information noch zusätzlich auf seinem Block. Während er schrieb, hielt er kurz inne. Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Wie in einem Archiv, in dem man sämtliche Schubladen aufzog, um die gesuchte, aber verlegte Information zu Tage zu fördern, kramte Jack in seinem Gedächtnis. Dann fiel es ihm ein und er wollte nun nur noch so schnell wie möglich an seinen Computer, um seine Ahnung zu bestätigen.
»Hi Schatz! Na, wie war’s?«, begrüßte Grace, die in ihrem lila Jogginganzug und in dicken Wollsocken mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Sofa saß, ihren Mann Jack. Sie machte offenbar gerade eine Pause von ihrer Lektorierung, denn ihr Notebook stand noch eingeschaltet neben ihr. Sie saß schon die ganze Woche daran und hatte sich ihm gegenüber immer wieder beklagt, wie schlecht und schnulzig doch dieses Werk wäre.
Jack warf seine Jacke über den Sessel und streckte sich. »Aufschlussreich«, antwortete er ihr ächzend.
»Freut mich. Willst du einen Tee?« Sie deutete auf die Kanne vor sich auf dem Tisch.
Er winkte dankend ab. »Hab noch was zu tun.«
»Jetzt noch?«
»Du weißt doch, ein guter Journalist…«
»…hat niemals Pause, ja. Bla, bla«, ergänzte sie Augen rollend und winkte ab. Aber sie lächelte. »Dann sehen wir uns wohl erst nachher im Bett?«
Er ging zum Sofa, beugte sich zu ihr runter und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Ihre Lippen schmeckten nach Jasmintee.
»Der Termin steht!«, sagte er und zwinkerte ihr zu. Dann ging er in sein Arbeitszimmer.
Er wusste noch, dass es vor etwa drei Wochen gewesen war, als er online die kurze Notiz im Presseportal der Hertfordshire Constabulary gelesen hatte. Er hatte der Sache keine große Bedeutung beigemessen, sie einfach nur zur Kenntnis genommen und dann irgendwo tief in seinem Langzeitgedächtnis vergraben.
Er fuhr den Computer hoch und ging ins Internet. Nach ein paar Klicks hatte er den ungefähren Zeitraum der Meldung gefunden und scrollte die Seite herunter. Jack spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Da war es. Die Meldung vom Montag vor drei Wochen:
GRABSCHÄNDUNG IN BRENTWOOD
In der Nacht von Sonntag auf Montag wurde ein Grab auf dem Brentwood Friedhof von Unbekannten verwüstet. Das Holzkreuz wurde mit einer brennbaren Flüssigkeit, vermutlich Benzin, übergossen und angezündet. Anschließend haben der oder die Täter das Feuer wieder gelöscht und mit Kreide auf das verkohlte Holz die Ziffern »79/83« geschrieben. Es wird als das Werk von Jugendlichen vermutet.
Jack freute sich wie ein Schneekönig. Einerseits hatte sich mit dem Lesen dieser Zeilen seine Vermutung bestätigt; zum anderen war dies eine interessante Spur, der er nun nachgehen konnte.
»Ob Macintosh das auch mitbekommen hat?« Oder maß Scotland Yard der Nachricht weniger Bedeutung bei, als den Leichen selbst?
Jack suchte sich noch die Adresse der Friedhofsverwaltung raus und schaltete dann den Computer aus. Ob er heute Nacht überhaupt würde schlafen können, war fraglich. Er wünschte sich, dass es schon morgen wäre, damit er gleich wieder an die Arbeit gehen konnte.
Nach einem kurzen Abstecher in die Redaktion machte sich Jack auf den Weg nach Brentwood, das fünfundzwanzig Autominuten von Loughton entfernt lag. Die Straßen waren mäßig befahren, insbesondere auf der Seite, auf der er fuhr; weg von London. Am Himmel zogen sich die dunklen Wolken immer mehr zusammen. Im Radio hatten sie gesagt, es könnte Regen und sogar Gewitter geben. Und sie sollten Recht behalten, denn bei seiner Ankunft schüttete es bereits wie aus Eimern.
Als Jack, seine Jacke schützend über seinen Kopf haltend, vom Wagen zu dem kleinen Gebäude der Friedhofsverwaltung rannte, hörte er in einiger Entfernung ein Donnergrollen. Schnell flüchtete er sich unter das schützende Wellblech-Vordach. Er wollte gerade an die Tür klopfen, als diese vor ihm geöffnet wurde. Ein älterer Mann mit silbernem Haarkranz und Brille lächelte ihn freundlich an.
»Ich habe Sie zufällig gerade kommen gesehen. So ein Mistwetter, was?«
Er bat Jack in seine Stube. Das Büro war wirklich winzig. Es bestand aus einem alten Holzschreibtisch, der am Fenster stand, vielen grauen Aktenschränken und einer kleinen Küchenzeile, von der gerade ein Teekessel seinen Dampf im Raum verteilte. Außerdem war es ziemlich warm dort drin; die einglasigen Scheiben der Fenster, die zur Straße und der Auffahrt zeigten, waren teilweise beschlagen.
»Nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann und deutete auf einen uralten Vollholz-Drehstuhl, der zwischen zwei hohen Aktenschränken stand. »Ich wollte mir gerade einen Tee eingießen. Mögen Sie auch einen?«
Jack nahm das Angebot dankend an und setzte sich. »Mein Name ist Calhey. Ich komme vom Loughton Courier«, erklärte er und wollte ihm seine Visitenkarte geben. Doch der alte Mann wand ihm den Rücken zu und hantierte nun in der Küchenecke mit zwei Kaffeepötten. Jack schätzte ihn auf Anfang bis Mitte sechzig. Er trug eine unmoderne, graublaue Stoffhose aus den Achtzigern, die von Hosenträgern gehalten wurde und eine wollene Hausjacke über einem rot-weiß karierten Hemd. Ganz offenbar gab es hier nicht allzu viel Publikumsverkehr.
»Ach, ein Reporter!«, sagte der Mann mit leichter Überraschung.
»Ja. Ich komme wegen des Vorfalls neulich.«
Der Alte drehte sich kurz um. Zwei Teebeutel baumelten an ihren Schnüren in seiner faltigen Hand. Er verzog kurz fragend das Gesicht, dann erhellte sich seine Miene. »Sie meinen die Grabschändung?«
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