»Hey!«, rief er, als der Junge bereits in der Hofeinfahrt war. Dieser fuhr herum und bekam sofort vor Entsetzen geweitete Augen.
»Was willst du?«, fragte er angsterfüllt und ließ seine Schultasche gänzlich zu Boden sinken.
Joey trat vom Gehweg in den Hof und schloss die alte Holztür des großen Tores hinter sich. Sein Blick erschreckte den kleinen Jungen mehr, als alles andere jemals zuvor in seinem Leben.
Das Café Olé war nicht sonderlich groß. Jack zählte gerade einmal sechs Tische, von denen zwei besetzt waren. An dem einen saßen drei Frauen, die sich ohne Punkt und Komma unterhielten; ganz sicher über Männer. An dem anderen hockte ein Yuppie und schlürfte einen Espresso, während er auf sein Smartphone starrte. Jack nahm direkt vor dem Panoramafenster, neben der Tür, Platz. Draußen dämmerte es bereits und er beobachtete einen Moment gedankenversunken die Menschen und Autos, die lautlos am Fenster vorbei flossen. Im Hintergrund lief das Radio und spielte gerade ›A hard days night‹ von den Beatles. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Liberman unpünktlich war.
»Er wird mich doch nicht versetzen?«
Jack bestellte sich einen Earl Grey mit Milch und checkte seine Mails auf dem Handy. Nach einer Weile wurde die Tür zum Café geöffnet. Es war Liberman, der in einen altmodischen Trenchcoat gekleidet eintrat. Er entdeckte Jack sofort und setzte sich stumm auf die Bank ihm gegenüber.
»Schön, dass Sie es einrichten konnten«, begrüßte Jack den Mann. Er hatte sich vorab noch ein wenig im Netz über Liberman informiert: Demnach interessierte er sich für historische Gebäude, war Mitglied in einem Förderverein zur Erhaltung eines alten Jugendstil-Schwimmbades in Hounslow und er engagierte sich in der Kirchengemeinde. Jack schätzte ihn mit dem schütteren Haar auf Anfang vierzig; er konnte aber auch einfach älter wirken, als er tatsächlich war. Zumindest fand Jack, dass Liberman älter aussah, als er selbst. Nicht reifer, eher verlebter. Jack bemerkte den starken Nikotingeruch, den sein Gegenüber ausdünstete.
Liberman verzog keine Miene. »Eigentlich weiß ich gar nicht, welcher Teufel mich geritten hat, hierher zu kommen«, brummte er und verschränkte die Finger seiner schwieligen Hände auf der Tischplatte.
Jack grinste. »Der Teufel heißt Geld«, antwortete er knapp und schob ihm den Fünfziger flach unter seiner Hand über den Tisch zu. Liberman nahm ihn und ließ ihn schnell in seinem Mantel verschwinden, nicht ohne sich dabei hastig umzublicken. Aber in dem Lokal interessierte sich niemand für ihn; die Frauen quatschten und lachten und der Kerl mit dem Smartphone war auch völlig in seiner eigenen Welt.
Jack hoffte, nicht zu voreilig gewesen zu sein; immerhin waren die fünfzig Pfund ein Vorschuss von einhundert Prozent auf etwas, von dem er noch gar nicht wusste, ob es ihm überhaupt was bringen würde.
Die junge und freundliche Bedienung kam und Liberman bestellte bei ihr einen Irish Coffee.
»Sie sind natürlich mein Gast«, sagte Jack.
»Kommen Sie zum Punkt, okay? Ich bleibe nicht länger als für den einen Kaffee.«
Jack nickte stumm, holte sein Diktiergerät aus der Innentasche seiner Jacke und legte es in die Mitte des Tisches. Liberman sah zuerst das Gerät und dann ihn nervös an.
»Muss das sein?«
»Ich kann meine eigene Schrift so schlecht lesen«, entschuldigte sich Jack schulterzuckend. Ihm war klar, dass das Ding eine größere Hemmschwelle für den Mann darstellte, als ein Notizblock. Aber Jack wollte sicher gehen, dass niemand später behaupten konnte, er hätte Liberman irgendwas in den Mund gelegt. Da dieser nicht weiter insistierte, drückte Jack den Aufnahmeknopf.
»Wann haben Sie die Leichen entdeckt?«
Liberman sah gedankenversunken aus dem Fenster. »Gestern früh. So gegen halb acht.«
»Wann beginnen Sie normalerweise Ihren Dienst?«
»Um sieben.«
»Was war das erste, das Ihnen durch den Kopf ging, als Sie sie fanden?« Es war, was das Thema anging, eine eher ungewöhnliche Frage, aber Jack wollte ein wenig Psychologie ins Spiel bringen und Interesse und Anteilnahme am Seelenheil von Mister Liberman zeigen. Dieser fuhr sich langsam mit der Hand über Nase und Wange.
»Ich war vor Entsetzen wie erstarrt. Ich dachte mir, das könne nicht sein.«
»Das war sicher ein großer Schock für Sie. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte.«
Sie hielten kurz inne, als die Bedienung den Irish Coffee brachte. Es war eine recht große Tasse, wie Jack feststellte, und die glatte Sahnekrone war kunstvoll mit einem Kleeblatt aus Schokoladenpulver garniert worden.
»Können Sie die Szenerie beschreiben?«, wollte Jack dann wissen.
Liberman schüttelte den Kopf. »Ich möchte das vergessen!« Er nippte an seinem Getränk und verzog das Gesicht; der Kaffee war offenbar sehr heiß.
»Das verstehe ich, Mitchell «, sagte Jack und versuchte, seinen Interviewpartner auf eine weniger distanzierte Ebene zu ziehen. Beinahe war er versucht, ihm die Hand zu tätscheln. Aber das ließ er dann doch lieber bleiben.
»Aber genau das ist es, was die Leser wissen wollen. Dafür bezahle ich Sie!«
Liberman zögerte und trank zaghaft noch einen Schluck. Dann sagte er: »Sie lagen mitten im Raum auf dem nackten Boden, umgeben von aufgestapelten Bänken und Tischen.«
»Lagen sie nebeneinander?«
»Ja.«
»Wie sahen sie aus?«
Liberman schluckte und blickte auf sein Getränk. Das Kleeblatt war inzwischen zu einer undefinierbaren Form verlaufen. »Sie hatten keine Gesichter mehr. Es war nur rohes, rotes Fleisch.«
Vor Jacks geistigem Auge formten sich unschöne Bilder.
»Soll ich Ihnen vielleicht etwas Stärkeres bestellen? Einen Scotch?«, fragte er.
Liberman winkte ab. »Es geht schon.« Nach ein paar Sekunden fuhr er fort zu erzählen: »Wie gesagt, ihre Gesichter waren vollkommen weggebrannt. Aber anhand ihrer Kleidung konnte man erkennen, dass es zwei Frauen und ein Mann waren.«
»Stimmt es, dass Ihr Direktor eine der Personen bereits identifiziert hat?«
»Ich habe das nur am Rande mitbekommen. Es soll sich um eine ehemalige Lehrerin handeln.«
»Kennen Sie ihren Namen?« Jack fühlte ein freudiges Kribbeln in seinem Magen. Es lief gerade sehr flüssig und gut für ihn.
»Sie hieß Roberta McDowell«, antwortete Liberman mit heiserer Stimme.
»Kannten Sie sie?«
Er nickte stumm und sah betroffen ins Leere. »Ja. Aber nicht gut. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich überhaupt in der kurzen Zeit mal ein Wort mit ihr gewechselt habe.«
»In der kurzen Zeit?«
»Naja, ich bin ja erst seit drei Monaten Hausmeister an der St. Marys. Und sie ist letzten Monat in Rente gegangen.«
Jack vergewisserte sich unauffällig, dass das Diktiergerät immer noch brav aufzeichnete.
»Was haben Sie vorher gemacht?«
Der Mann begann seine Finger zu kneten; sie knackten leise. »Ich war in einem Fotolabor angestellt. Bei Websters Laboratories.«
Von denen hatte Jack schon gehört, und zwar als sie vor etwa einem halben Jahr Pleite gegangen waren.
»Danach habe ich noch kurz in einer Videothek gearbeitet. Naja, einfach um mich über Wasser zu halten.«
»Wie sind Sie dann an die St. Marys gekommen?«
Ein Lächeln huschte über Libermans Gesicht, während er sich die leere Tasse betrachtete, die er nun zwischen seinen Händen hin und her wackeln ließ. »Ich habe online die Stellenausschreibung gelesen. Und da ich handwerklich recht geschickt bin…«
»Verstehe. Macht Ihnen der Job Spaß?«
»Er ist abwechslungsreich. Und ich kann eigentlich ganz gut mit Kindern. Und sie mit mir. Ja, ist schon ganz gut so, wie es sich entwickelt hat.« Sein Blick wurde wieder finster. »Aber das gestern…« Er schüttelte den Kopf.
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