Sebastian Bickel - Kastensitz
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Für Julia
Kastensitz
Prolog
(Dezember 714)
Pippin saß in seinem mit weichem Fell versehenen Kastensitz, diesem liebevoll und großzügig verzierten Objekt, das ihn immer an seinen Opa erinnerte, der aus für ihn unerfindlichen Gründen auch Pippin geheißen hatte, und ärgerte sich. Warum mussten eigentlich alle Mütter, oder zumindest ein Teil von ihnen, ihre Söhne Pippin nennen? Allein der Name strahlte schon so etwas aus, so etwas – Kindisches. Ja, er hatte diesen Geschmack. Diesen Geschmack von – , kurzum es hatte einfach etwas Negatives an sich, ausgerechnet Pippin zu heißen. Andererseits konnte er da jetzt im Nachhinein auch nichts mehr daran ändern. Doch er regte sich eigentlich wegen etwas anderem auf.
Wie war er denn jetzt nur auf dieses leidige Namensthema gekommen? Ach ja, des Sitzmöbels wegen, das ihn tatsächlich immer an seinen Opa erinnerte. Dieser wunderschöne, dieser göttliche und überaus bequeme Kastensitz – ein Gedicht von einer Sitzgelegenheit, in dem man so bequem saß und in dem bereits sein Opa Pippin schon so bequem, ja, man muss es durchaus so formulieren, gethront hatte.
Pippin ertappte sich dabei, wie er schon wieder auf abwegige Gedanken kam; es war wirklich wie ein Teufelskreis und er scheinbar (er musste sich konzentrieren!) nicht in der Lage, gründliche und präzise Überlegungen anzustellen, so wie er es, sozusagen, im Normalfall gewohnt war. Er hatte doch eben noch einen Grund gehabt sich zu ärgern, das wusste er noch, aber über was genau, war ihm natürlich wieder einmal entfallen.
War es wegen einer der Söhne? Wegen seiner Frau? Oh, diese Frau; ständig wollte sie etwas von ihm: Pippin solle dies tun, Pippin solle jenes tun, ob Pippin schon die Aufgaben abgearbeitet habe, zu ihrer vollsten Zufriedenheit, wie sie es angeordnet habe? Er hörte sie in einer Tour keifen, und das, obwohl sie sich nicht hier im Raum befand, so traumatisiert war er bereits. Sie war von Anfang an ein Fluch, eine Prüfung jeden Tag, aber er konnte nicht anders, er hatte sie heiraten müssen, allein der Ländereien wegen und auch politisch war es klug gewesen. Aber trotzdem, eine Prüfung war es und allein schon bei diesem Gedanken erschütterte ein heftiges Zittern seinen Körper vom Scheitel bis zur Sohle. Sie war eine gemeine Frau, aber ihretwegen hatte er sich nicht aufregen wollen – damit hatte er abgeschlossen.
Es musste also wegen eines seiner Söhne gewesen sein. Drogo kam ja wohl nicht mehr in Frage, der war ja schon seit einigen Jahren tot. Dabei hatte Pippin all seine Hoffnung in ihn gesteckt. Er hatte ihn ordentlich erzogen, nach guter, alter fränkischer Manier, hatte ihm gezeigt, wie man sich Frauen gegenüber verhielt, wie man sich erfolgreich gegenüber anderen Großen im Frankenreich behauptete und, was das wichtigste war: er hatte ihm gezeigt, wie man es schaffen konnte, mit einer geschickten Heiratspolitik und durch die hohe Kunst Bündnisse zu knüpfen im Frankenreich nach ganz nach oben zu kommen.
Pippin hatte auch konsequent dafür gesorgt, Drogo ordentlich zu verheiraten und ihn anschließend zum dux gemacht, sogar zum dux der Burgunder! Der Bub hatte einen guten Start gehabt in das richtige, das fränkische Leben und dann, dann starb er plötzlich, einfach so.
Da fiel ihm wieder ein, dass es durchaus schon einige dunkle Kapitel in der Familie gegeben hatte, was er niemals in der Öffentlichkeit zugeben würde, aber hier auf seinem Kastensitz war er alleine, konnte die Wahrheit schonungslos ausbreiten. Auf seine beiden Opas Arnulf und Pippin (aha, nochmals der doofe Name) war er freilich stolz und erzählte jedem, ob er es nun hören wollte oder nicht, wie die beiden damals gemeinsame Sache gemacht hatten. Es war aber auch wirklich beeindruckend gewesen, wie sie an der Spitze der sogenannten Großen im Frankenreich Chlothar, dem alten Merowinger, in Austrien zur Macht verholfen hatten. Gegen diese Brunichilde – ein geschickter Schachzug!
Natürlich war diese Unterstützung nicht aus reiner Menschenliebe gewährt worden. Er musste seinen Opas ja irgendwie danken, und so kam sein Opa Pippin an das elegante und nach dem Sieg Chlothars mehr als anständig erweiterte Hausmeieramt. Welch überdurchschnittliche Macht sein Opa plötzlich inne hatte!
Pippin musste an dieser Stelle jedes Mal schmunzeln und leise in sich hineinlachen, denn diesem Hausmeieramt hatte er selbst, verdammt nochmal, vieles zu verdanken. Er würde ohne das Amt heute nicht das sein was er war, ein princeps! Er kannte außer sich keinen weiteren princeps , außer selbstredend denen von früher, die bei den Römern geherrscht hatten, aber das war ja auch schon lange her und die Gegebenheiten hatten sich doch leicht geändert, die hatten auch länger Zeit gehabt, um ihr Reich zu etablieren! Das hatten sie ihm voraus. Die Römer hatten ihm aber auch noch mehr voraus: ihr Reich war einfach größer! Viel größer! Und diese principes von früher waren legitime Herrscher, ganz im Gegensatz zu ihm. Er hatte zwar Macht, ja, aber er konnte einfach kein richtiger König sein. Es war ungerecht, soviel wusste er auf jeden Fall.
Er schweifte schon wieder ab, wie immer. Aber wo war er stehen geblieben? Ach ja, bei den Opas. Pippin als Hausmeier und Arnulf, der damals Erzieher von den kleinen minderjährigen und dummen Merowingerkindern geworden war. Ja, ja, da hatten die beiden großen Einfluss ausüben können. Es musste eine schöne Zeit gewesen sein, früher, als noch alles besser war.
Es lief für seine Familie gut an damals, bis sein Onkel Grimoald alles kaputt gemacht hatte, der Idiot. Warum war er nicht zufrieden gewesen mit dem Hausmeieramt? Alles wäre gut geworden. Idiot! Idiot! Idiot! Pippin bekam jedes Mal einen großen Zorn wegen dieser unnötigen Geschichte, die er natürlich nicht so gerne und auch nicht so oft erzählte. Aber das Schlimmste war, dass er seinen eigenen Sohn auch Grimoald nennen musste, nur um von dem anderen Grimoald abzulenken und endgültig Gras über diese unschöne Sache wachsen zu lassen. Und dieser Name war nicht nur der Geschichte wegen ein Graus, nein, er klang auch so düster, so nach trostlosem dunklen Wald voller abgestorbener Bäume und viel nacktem, grauen Fels, an dem Blut klebte. Naja, immerhin lenkte sein Sohn Grimoald von Onkel Grimoald ab, gewissermaßen war der Name durch seinen eigenen Sohn wieder reingewaschen worden. Zum Glück.
Pippin war jedoch mit seinem eigentlichen Gedanken immer noch kein Stück weitergekommen. Er hatte sich doch ursprünglich über etwas Bestimmtes geärgert, wusste jedoch immer noch nicht über was und auch nicht warum. Er wurde einfach älter, das war nicht länger zu verleugnen, zumindest nicht vor sich selbst. Nach außen würde er das freilich niemals zugeben. Aber statt weiter über das eigentliche Problem nachzugrübeln, reflektierte er die komplette Familiengeschichte, als wäre das alles neu für ihn.
Wieder driftete er ab in die Welt der Träume, erinnerte sich nun an Chalpaida, wenn auch nur noch dunkel. Wie lange war es jetzt her, dass er sich von ihr getrennt hatte und wieder zu Plektrud zurückgekehrt war? Zwölf Jahre, eine lange Zeit. Es war eine schöne Zeit gewesen mit ihr, der kleine Karl hatte sich zu einem strammen jungen Mann entwickelt und gutes Aussehen war ihm sowieso gegeben; im Endeffekt konnte es ja auch kaum anders sein, bei dem Vater.
Chalpaida war immer zärtlich zu ihm, Pippin, gewesen, hatte ihn verwöhnt und als dumm hatte man sie auch nicht bezeichnen können. Aber was sollte man machen? Liebe hin oder her, er musste ja damals auch irgendwie die Macht sichern. Hinzu kam noch, dass der kleine Karl im Grund genommen kein legitimer Sohn war und so sehr Pippin ihn mochte, denn er mochte alle seine Kinder gerne, an der Spitze der Familie konnte er kaum stehen. Die jetzige Situation war zudem im höchsten Maße unbefriedigend, denn es gab noch weit mehr Probleme. Irgend so ein Friese, und Pippin hasste die Friesen, hatte vor kurzem seinen Sohn Grimoald erschlagen, hinterrücks und feige. Er hasste sie, diese Drecksfriesen.
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