Sie schüttelt den Kopf und wendet sich zum Gehen. Da erblickt sie das Telefon an der Wand neben dem Tisch, wo der Koch für gewöhnlich die Speisefolge für den jeweiligen Tag in bester Schönschrift mit der Feder auf Pergament schreibt. Der Herr verlangt es so.
Und er hat auch befohlen, sie nach vergangener Nacht nicht mehr aus dem Haus zu lassen. Nicht einmal mehr Fernsehen ist ihr erlaubt, während Emine und Sulaika rund um die Uhr ihre Lieblings-Seifenopern sehen dürfen. Aber nicht sie, nein, sie ist ja die Neue.
„Eine Kopfschmerztablette“, presst sie heraus, weil ihr nichts Besseres einfällt. „Und mein Riechsalz. Es liegt im Salon im Westflügel, glaube ich.“
„Ich eile“, sagt der Koch mitfühlend und läuft zur Tür hinaus.
Sie wartet nicht, bis seine Schritte auf dem Gang in Richtung Treppe zum Erdgeschoss verklungen sind. Sie springt hinüber zum Telefon, hebt eilig den altmodischen Hörer ab und lauscht nach dem Freizeichen. Als nichts kommt, wählt sie eine Null, vernimmt das beruhigende Tuten und lässt die Wählscheibe erneut unter zwei Nullen schnurren, bevor sie eine Vier und Sechs anschließt, gefolgt von der einzigen Nummer, die sie zuletzt vor gut zwei Wochen gewählt hat. Aber da ist sie noch weit weg von hier gewesen, in vergleichsweise sicheren Umständen und mit einem Bauch voller Hoffnung.
Mit pochendem Herzen lauscht sie dem Freizeichen und spitzt gleichzeitig die Ohren, um ja jeden Schritt auf der Treppe oder im Gang zu vernehmen. Es ist ihr verboten, ein Telefon zu benutzen. Dasselbe gilt für Computer, egal ob tragbar oder stationär. Sie ist hier, zunächst nur auf Probe, wie sie gestern per Zufall erfahren hat.
Aber seit dem belauschten Gespräch gestern – und vor allem seit jener schrecklichen Nachricht heute, die sogar die Schmach und den Ekel der vergangenen Nacht verblassen lässt – ist sie sicher, dass sie diese Probe nicht bestehen wird. Sie ist sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt bestehen will oder es jemals wollte.
Man hat ihr zugeredet, sogar der Mensch, dem sie am meisten auf der Welt vertraut hat. Aber er ist nun nicht mehr da und wird nie wieder für sie da sein. Sie schluckt und fährt sich mit dem seidenen Ärmel über das nasse Gesicht und den Hals, während sie weiterhin auf das Freizeichen horcht. Was soll sie nur tun, wenn niemand das Gespräch annimmt?
Schon hört sie Schritte in der Halle im Hochparterre, von der die Treppe hinab ins Souterrain führt, wo sich die Wirtschaftsräume des herrschaftlichen Anwesens hier am malerisch gelegenen Zürichsee befinden.
Da meldet sich eine Stimme, hell und fröhlich, die ihr Herz sofort zu einem freudigen Sprung veranlassen. Sofort sprudelt sie los, wo sie ist und dass sie Hilfe nötig hat. Es piepst, als sie gerade das Wort „Hilfe“ ausgesprochen hat.
Die Schritte kommen die Treppe herunter, als sie hastig alles aufs Band spricht, an das sie sich von dem belauschten Gespräch erinnert. Sie weiß wohl, dass sie nur noch wenige Sekunden hat, bis der dem Herrn treu ergebene Koch in der Küchentür erscheinen und sie beim unerlaubten Benutzen des Telefons ertappen wird. Sie ahnt, dass die beiden Schläge gestern abend mit der flachen Hand nichts gewesen sind gegen das, was ihr bei einem solchen Verstoß gegen ein ausdrückliches Verbot des Herrn bevorsteht.
„Er reist 1. Klasse“, beeilt sie sich zu sagen. „Mit dem Schnellzug um Zwölf.“
Dann sind die Schritte im Gang vor der Küche. Ihr Herz rast. Aber der Hörer liegt wieder auf der altmodischen Gabel, während sie mit leidender Miene auf einen Küchenhocker gesunken ist, nur Bruchteile von Sekunden, bevor der Koch hereinkommt. Er ist so sehr damit beschäftigt, ihr das Riechsalz unter die Nase zu halten und ihr die Kopfschmerztablette mit einem Glas Leitungswasser einzuflößen, dass er gar nicht bemerkt, wie die in sich gedrehte Telefonschnur noch zwei geschlagene Minuten leise hin und her schwingt.
*****
Die Mündung der automatischen Pistole zielt auf ihre Stirn. Carlotta Strandt ist für einen schrecklichen Moment wie gelähmt. Dann handelt sie blitzschnell, so wie sie es gelernt hat. Noch im seitlichen Wegducken führt sie einen gezielten Pandae-Dollyo-Chagi aus und holt ihren Angreifer mit dem geduckten Drehwinkeltritt von den Beinen.
Drei Kugeln gehen in die Decke des dämmrigen Raumes, bevor Lotta von unten nach dem haarigen Handgelenk greifen und die Waffe mit einer geschickten Drehung auf ihren Angreifer richten kann. Im nächsten Augenblick ist sie es, die ruhig mit der automatischen Pistole auf eine Stirn zielt.
„Hände hoch“, zischt sie mit leicht zitternder Stimme, die bei den nächsten Worten fester und fester wird. „Sie sind verhaftet. Jeder Widerstand ist zwecklos, das Haus ist umstellt.“
Der Angreifer reagiert nicht gleich, sodass sie sich gezwungen sieht, mit der Waffe eine unmissverständliche Geste zu machen. Leise knurrend hebt der am Boden Kniende die Hände in die Höhe, sodass sie ihm problemlos Handschellen anlegen kann. Gerade will sie sich danach für einen Moment des Luftholens an die nächste Wand stützen, da hört sie hinter sich ein Geräusch.
„Waffe her, Püppchen!“ knurrt eine tiefe Stimme. „Ich ziele mit einer MP auf deinen hübschen Hinterkopf.“
Lotta streckt langsam den Arm mit der automatischen Pistole nach hinten, auch wenn sie es nicht mehr geschafft hat, den Schalter auf lock zu stellen. Sie spürt die Wärme der sich nähernden Hand und spannt jeden Muskel an. Sie hat nur einen einzigen Versuch, aus dieser misslichen Lage herauszukommen. Langsam dreht sie den Kopf zur Seite, um aus dem Augenwinkel nach dem zweiten Mann zu spähen, der zur ihrer Überraschung keine MP, sondern einen Tennisschläger in der Hand hält und mit dem Stiel nach vorne auf sie richtet.
Im selben Moment, als er an ihre Waffe heranreicht, duckt sie sich seitlich weg und führt noch im Wegrollen einen gezielten Bogentritt von unten nach oben aus, mit dem sie nicht nur den ausgestreckten Arm erwischt, sondern auch den Schläger in die Weichteile des Mannes stößt. Dieser keucht vor Schmerz auf und sinkt zu Boden, sodass sie genug Zeit zum Abrollen und Aufstehen hat. Noch aus der Hocke heraus richtet sie die entsicherte Waffe auf den Mann und wiederholt mit fester Stimme: „Hände hoch. Sie sind verhaftet.“
Applaus ist zu vernehmen. Dann geht das Licht an und beleuchtet den Raum mit all den umgestürzten Möbeln, zwischen denen die beiden Verhafteten sich nun aufrichten und ebenfalls in die Hände klatschen. Lotta bemerkt, dass sich der zweite Mann immer noch etwas wacklig bewegt. Offenbar hat sie wirklich gut getroffen und eventuelle Schutzvorrichtungen umgangen. Entschuldigend lächelt sie ihm zu und erntet ein Nicken, gefolgt von einem Daumen-hoch.
„Sehr gut, Strandt“, hört sie nun auch den Kursleiter Andrew MacDonnell wohlwollend sagen, der sich auf der zuvor abgedunkelten Außenseite des Raumes von seinem Stuhl erhebt und hinter den drei Kameras hervorkommt, mit der die Trainingsepisode zu Analysezwecken aufgezeichnet worden ist. „Haben Sie gesehen, dass der zweite Angreifer keine Schusswaffe hatte?“
„Ja“, gibt Lotta zu. „Es war ein Tennisschläger.“
„Sehen Sie, Arnold“, wendet sich der Kursleiter an einen anderen Teilnehmer, der – seiner betrübten Miene nach zu schließen – in seiner Trainingsepisode nicht so viel Erfolg gehabt hat. „Die Kollegin hat ihre Möglichkeiten genutzt. Ich muss schon sagen, Strandt, das war beeindruckend. Wenn Sie im Feld auch so geistesgegenwärtig sind, dann werden Sie es weit bringen.“
„Danke, Sir.“
„Gehen Sie sich erfrischen, Sie haben es sich verdient.“
Lotta nickt dankend und verlässt das Trainingsensemble. Sobald sie aus dem nachgebauten Haus in die große Halle hinaustritt, hält ihr eine freundliche Frau mit hellbraunem Kurzbob und dunkelgrauen Augen in einem runden und alterslos wirkenden Gesicht ein Handtuch und eine Flasche Wasser hin. Erst jetzt bemerkt Lotta, wie nassgeschwitzt und durstig sie ist.
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