„Sicher ist das so“, gab Valea zu. „Und ja, ich stoße oft auf Grenzen und wünschte mir manchmal, hexen zu können. Doch da mir die einzigen Hexen bisher in Märchen begegnet sind, belasse ich sie auch gerne dort.“
Roman Rothensteins Augen funkelten auf unbestimmte Weise. Machte er sich über sie lustig? Warum sollte er? Bisher schien er immer ein sehr rationaler Mensch zu sein. Doch Valea stellte im Laufe des Abends fest, dass ihr Besucher ein weitaus vielseitigerer Gesprächspartner war, als sie bisher geglaubt hatte.
Die Zeit verflog und sie lauschte fasziniert seinen Erzählungen und Beschreibungen über Märchen, Mythen und Fabelwesen. Das Thema hatte ihn wohl eine lange Zeit beschäftigt, wie er zugab und Valea genoss seine Ausführungen und seinen Witz. Die Zeit verfloss, Wein kam hinzu und aus einer Flasche wurden zwei, bis Valea erschrocken feststellte, dass es bereits drei Uhr morgens war.
Unsicher erhob sie sich.
„Es ist spät, Herr Rothenstein und ich habe morgen wieder einen langen Arbeitstag.“
Er stand ebenfalls auf.
„Dann werde ich wohl besser gehen. Ich danke Ihnen für einen anregenden Abend, Dr. Noack, und wünsche Ihnen viel Erfolg auf Ihrem Weg.“
Als er verschwunden war, lehnte sich Valea mit geschlossenen Augen gegen den Türrahmen. Er hatte sich mit einem galanten Handkuss verabschiedet und hinterließ in ihr ein seltsames Gefühl. Mochte sie Roman Rothenstein? Sie war sich nicht sicher. Er war attraktiv, sogar sehr, und seine Nähe versetzte sie ein wenig in Unruhe. Mehr noch als bei ihrem ersten Kennenlernen. Aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Mann nicht ungefährlich für sie war, obwohl keine seiner Handlungen und auch kein Wort darauf hindeuteten. Er behandelte sie respektvoll, rührte sie nicht an und schien nur an Gesprächen mit ihr interessiert zu sein. War sie deshalb so irritiert? Wollte sie, dass er sie anfasste? Dass er sich auch anders für sie interessierte? Sie spürte wie sich eine leichte Gänsehaut auf ihr ausbreitete, wenn sie an seinen intensiven Blick dachte. Den ganzen Abend über hatte er sie nicht aus den Augen gelassen, sie beobachtet, beinahe seziert. Doch noch immer wusste sie nicht, was er von ihr wollte. Was er in ihr sah.
Mit einem leisen Seufzer löste sie sich von ihrem Platz und steuerte auf das Badezimmer zu. In dieser Nacht würde sie darauf keine Antwort finden. Aber vielleicht bekam sie ja noch ein wenig Schlaf.
Frankfurt am Main, Deutschland
Der Anruf kam überraschend und zu einer ungewöhnlichen Tageszeit, nämlich mitten in der Nacht.
Valea schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Verschlafen tastete sie nach dem Hörer. Hoffentlich war das nicht das Institut. Eigentlich hatte sie gerade keine Bereitschaft.
„Ja?“, murmelte sie.
„Dr. Noack? Dr. Valea Noack?“
Der Akzent war eindeutig amerikanisch. Valea richtete sich auf und versuchte zu verstehen, wer da am Apparat war. Vermutlich hatte sie sich verhört. Auf Englisch fragte sie nach:
„Wer ist dran? Könnten Sie Ihren Namen nochmal wiederholen?“
„Bond. James Bond.“
„Äh – hach – sehr witzig. Aber es ist bei mir mitten in der Nacht und da hält sich mein Humor in Grenzen.“
„Entschuldigen Sie den späten Anruf, Dr. Noack.“ Die männliche Stimme klang ebenfalls leicht genervt. „Aber mein Name ist tatsächlich James Bond. Ich bin Special Agent beim FBI und brauche Ihren Rat.“
„Dann muss ich mich wohl ebenfalls entschuldigen, Agent Bond.“ Valea musste grinsen und war dankbar, dass ihr Gesprächspartner dies nicht sah. Doch vermutlich konnte er es sich denken. Wer diesen Namen trug, bekam mit Sicherheit ständig dumme Bemerkungen und noch dümmere Witze zu hören. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe hier zwei Mordfälle, naja vermutlich sogar drei. Alle tragen die gleiche Handschrift und wir kommen einfach nicht weiter mit unseren Ermittlungen. Man hat Sie uns empfohlen für solche speziellen – äh – Verletzungen.“
„Sie meinen Fraßspuren.“
„So was in der Art, ja.“
„Haben Sie Bilder, die Sie mir zukommen lassen können?“
„Hm, schon. Doch ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass Sie vorbeikommen.“
Ein Trip nach Amerika? Rasch ging sie im Geist ihre Termine durch.
„Ich muss sehen, ob ich das einschieben kann, Agent Bond“, meinte sie schließlich. „Doch Sie können mir die Bilder auf jeden Fall zuschicken, damit ich einen ersten Eindruck bekomme. Haben Sie meine Mailadresse?“
„Ja, ich werde es sofort veranlassen. Wann kann ich mit einer Antwort rechnen?“
Sie sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr nachts.
„Ich hoffe in etwa zehn Stunden“, versprach sie. „Soll ich Sie anrufen, oder reicht Ihnen eine Mail?“
Er gab ihr seine Telefon-Nummer und Valea sank wieder in die Kissen zurück.
Ein Ausflug in die Staaten klang spannend. Und sie hatte noch nie für das FBI gearbeitet – und auch nicht für James Bond. Sie lächelte ein weiteres Mal über den Namen. Diese Reise konnte nur interessant werden.
Kansas, USA
Bereits drei Tage später stand sie zum ersten Mal in einem amerikanischen gerichtsmedizinischen Institut in Kansas und betrachtete die beiden Leichen, die vor ihr auf den Stahltischen lagen.
Neben ihr stand Agent James Bond und sie konnte verstehen, dass er ziemlich bleich um die Nase war. Der Geruch, den die Toten ausströmten, war sehr intensiv. Immerhin hielt er sich gerade und ihr erster Eindruck von ihm verstärkte sich. Sie mochte diesen Agenten. Er sah gut aus, wirkte nett und war dazu noch kompetent.
Doch die beiden Leichen vor ihr fesselten derzeitig ihre gesamte Aufmerksamkeit. Es waren zwei Frauen, vermutlich noch jung und einstmals hübsch. Ihre Körper befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung.
Sie wusste inzwischen, dass eine Frau bereits vor drei Monaten gefunden worden war, die zweite dagegen erst vor etwa einem Monat. Beide wiesen die gleichen Verletzungen auf, und die Art der Verstümmelungen verursachte in Valea kaltes Grausen. Beiden war nahezu komplett die Haut abgezogen worden, und laut der gerichtsmedizinischen Untersuchungen hatten sie beide während dieses Prozesses gelebt.
Agent Bond hatte ihr zudem einen dritten Fall vorgelegt, der vor einem Jahr für Aufregung gesorgt hatte. Diese Frau war genauso verstümmelt worden. Dass hier ein Serientäter am Werk war, war nicht schwer zu erkennen.
Sie seufzte leise und trat näher. Ihre Aufgabe war heute die Überprüfung der Fraßspuren, und sie hoffte sehr, dass sie nicht umsonst hier aufgetaucht war. Wer Frauen so verstümmelte und quälte, musste einfach gefunden und unschädlich gemacht werden.
Einige Stunden später saß sie mit Agent Bond in einem kleinen Büro und besprach das Ergebnis ihrer Untersuchungen. Es war weiß Gott nicht viel, was sie gefunden hatte. Und mit Sicherheit zu wenig, um diesem Ungeheuer Einhalt zu gebieten.
„Die Häutungen erfolgten mit einem Messer und mit Zähnen“, konnte sie bestätigen. „Und leider Gottes haben die armen Frauen dabei noch gelebt. Die Zähne ähneln denen eines Hundes oder Wolfes, aber sie sind ungewöhnlich groß und lang, beinahe dolchartig. Von der Größe her würde ich sie eher einem Bären, Löwen oder Tiger zuordnen, doch die Zahnstellung und die Form ist eindeutig hundeartig. Interessant ist, dass zumindest bei den neuen Opfern die Häutung beinahe ritualisiert erfolgte. Die Muster gleichen sich sehr und alles deutet darauf hin, dass der Prozess quälend langsam erfolgte. Wer auch immer das getan hat, ist hochgradig sadistisch und wird sich sein neues Opfer bereits suchen.“
Agent Bond nickte mit grimmigem Gesicht.
„Das haben unsere Experten auch prophezeit. Und Sie haben keine Ahnung, was für ein Tier ihn unterstützt hat?“
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