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16. Kapitel
Die Autorin
Impressum neobooks
Christiane Kriebel
Dita und die 70er
Copyright by Primär Verlag Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagsgestaltung: Exakt Werbung, Simone Stolz
Coverfoto © Christiane Kriebel
Urheber: Christiane Kriebel
Lektorat: Stefan Ment
Ebookversion
ISBN 978-3-948414-04-7
Dieser Roman ist ein Gemisch aus realer und erfundener Biografie der Autorin
Die Namen der Protagonisten sind, wenn nicht geschichtlich belegt, frei erfunden.
„Die Wölfe schleichen ums Haus“, sagte ich und gähnte. „Bei uns gibt es keine Wölfe“, antwortete meine Schwester ängstlich. „Doch“, entgegnete ich, „Sie kommen aus dem Erdengraben und heulen die ganze Nacht den Vollmond an.“ Hätte Luise nur zum sternenlosen Himmel geblickt, sie hätte sofort bemerkt, dass ich wieder einmal übertrieb. Versteckt unter der Decke flüsterte sie Minuten später: „ich ersticke“. Ich liebte es, unter der Decke zu liegen, so dass nur meine Nase hervor sah, dann fühlte ich mich geborgen. Oft träumte ich von einem schwarzhaarigen Schäfer, der mich mit einem Kuss sanft weckte. Allabendlich spann ich unter der Decke Geschichten. Ich sah mich als mildtätige Helferin in Angola, fuhr zu den Indianern an den Orinoko. Mein Lieblingstraum aber war, nach bestandenem Abitur Regie zu studieren. Das wäre was - Regisseurin sein und mindestens so berühmt werden wie der schwedische Regisseur Ingmar Bergman. Wie ich das in der DDR 1968 anstellen sollte, wusste ich nicht. Aber ich würde einen Weg finden. Nach dem Abitur bewarb ich mich beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Mein Abgangszeugnis gefiel der Prüfungskommission nicht, die schlechten Noten in Staatsbürgerkunde und Betragen störten. Aber von meiner kreativen Seite zeigten sie sich angetan. Wochenlang war ich durch meinen kleinen Ort getigert. Mit meiner neuen Kamera, einer Exa, die sogar ein Zeiss-Objektiv hatte, fotografierte ich die wehrlosen Bewohner. Ich fotografierte die Maurer beim Richtfest, kletterte mit meinen Freunden auf den Kirchturm und fotografierte das Goethe-Schloss aus der Vogel- perspektive. Ich nahm eine Hochzeit im Altersheim auf, ich fotografierte die Bauern auf dem Feld und meine Schwester Luise bei ihrem ersten Versuch Fahrrad zu fahren. Dazu schrieb ich lustige Geschichten und schickte sie zur Prüfungskommission nach Berlin. Irgendwie muss denen das in der Hauptstadt gefallen haben. Ich wurde eingeladen, um eine Prüfung abzulegen, obwohl die Studienplätze für das Jahr 1968/69 belegt waren. Ich saß mit vielen Bewerbern tagelang in der Betriebsakademie und wurde auf Herz und Nieren geprüft. Meine Organe hatten wohl funktioniert, denn ich bekam einen Studienplatz für das Jahr 1969/70 und gehörte zu der neuen „Kader- schmiede“ - ausersehen, Kunst und Kultur im Fernsehen der DDR zu gestalten. „Schicken sie uns vierteljährlich Fotos, damit wir ihre Entwicklung sehen können“, verabschiedete mich der Vorsitzende der Prüfungskommission des Deutschen Fernsehfunks der DDR. Da er mir tief in die Augen sah, wusste ich nicht hundertprozentig, welche Entwicklung er meinte, die meinige, die meiner kleinen Stadt oder die unserer sozialistischen Gesellschaft. Ich musste ihn so verdutzt angesehen haben, dass er noch einige erklärende Sätze hinzufügte. Bewerben sie sich in der Produktion, arbeiten sie das Jahr bis zum Studienbeginn. Voller Optimismus und Tatendrang fuhr ich nach Hause. Ja, ich wollte mich bewähren, mein eigenes Geld verdienen und meinen Eltern zeigen, dass ich nicht nur träumen, sondern auch arbeiten konnte.
Körperliches Arbeiten kannte ich seit meiner Kindheit, jedes Frühjahr ging ich zum Rübenverziehen. Das hieß, stundenlang auf den Knien Ackerfurchen entlang zu rutschen, die kleinen Rübenpflanzen, die überzählig waren, herausziehen und möglichst nur ein Pflänzchen stehen lassen. Am liebsten nahm ich drei Reihen, das trauten sich nur die großen Jungen zu. Wenn das Geld am Abend ausgezahlt wurde, hielt ich in meinen grünen klebrigen Händen neun Mark, eine Summe, die sich sehen lassen konnte. Für das Geld kaufte ich mir diese teure Exa. Die ersten Fotos schoss ich mit schmerzendem Rücken und wunden Fingern. Gute Fotos, es hatte sich gelohnt.
Sommer 1968.
Meine Eltern und Luise tummelten sich an der Ostsee. Luise war mitten in der Pubertät. Pickel zeigten sich auf ihrer Stirn und ihr blondes Haar hing ihr oft strähnig in den Nacken. An der Ostsee ließ sie sich in ihrem ersten Bikini von der Sonne braun brennen, ihr Haar bleichte weißblond. Ich lag in unserem Garten. Eigentlich sollte ich die Eierpflaumen ernten, doch bei der sengenden Hitze fiel mir das schwer. Mein Vater hatte befohlen, jede Pflaume einzeln abzupflücken, vorsichtig in den Korb zu legen, und sie so wie rohe Eier zu behandeln. Er nahm wie immer alles wörtlich: Eierpflaumen. Träge stand ich auf und rüttelte müde am Baum, einige wurmstichige Pflaumen bequemten sich hinunter- zufallen. Da ich meinen Fotoapparat überall dabei hatte, stieg ich auf die Leiter und fotografierte Pflaume für Pflaume. In meinem Kopf türmten sich Gedanken. Wo sollte ich während meines freien Jahres arbeiten? In der hiesigen Brauerei? Meinem Vater wäre es recht, dann bekäme er Abend für Abend mein Deputat Bier. Es war immer noch drückend heiß und ich trank aus unserem Brunnen eiskaltes Wasser. Nach einiger Zeit des Überlegens musste ich auf unser Holzhäuschen. Durch das große Herzchen fiel genügend Licht in den Raum, so dass ich die zurechtgeschnittenen Zeitungsrechtecke lesen konnte, bevor ich sie benutzte.
Eine Annonce fiel mir sofort ins Auge: Arbeiterinnen in der Maschinenpappfabrik gesucht! Guter Lohn garantiert. Ich spazierte von unserem Garten in den Schlossgarten, stellte mich an die Schlossmauer und sah durch den Sucher meines Fotoapparates aufs Saaletal. Am Horizont entdeckte ich verschwommen die alte Maschinenpappfabrik. Fragen kostet nichts, ich spaziere da einfach mal hin, dachte ich und ging langsam durch die Stadt nach Hause.
In der Nacht wachte ich auf, die Wände des Neubaublocks ließen alle Geräusche durch, besonders in der Nacht. Unser Nachbar, der aus der Nachtschicht kam, hustete und ließ die Toilettenspülung minutenlang laufen. Dann ließ er sich müde in sein Bett fallen. Ich lag einige Minuten wach und grübelte, dann kam mir eine grandiose Idee. Vor meiner Bewährung in der sozialistischen Produktion werde ich ins sozialistische Ausland reisen und Fotos schießen, so wie es mir der Prüfungsvorsitzende geraten hatte. Vor meinem geistigen Auge tauchte die Silhouette Prags auf. Meine Eltern schwärmten von der goldenen Stadt an der Moldau, und was lag näher, als Fotos in dieser herrlichen Stadt zu schießen. Ach, hätte ich bloß vorher die Zeitung gelesen und nicht nur die Anzeigen, dann wäre mir einiges erspart geblieben.
Am 17. August jenes denkwürdigen Monats des Jahres 1968 fuhr ich am frühen Morgen nach Prag. An der Grenze standen Beamte mit Spürhunden. Sie suchten nach Drogen, vermutete ich. Die Soldaten marschierten durch den Zug und schrien: „Aufstehen!“ Dann suchten sie unter den Sitzen, ein Hund schnüffelte unter meinem Minirock, bevor ich ihm eins auf die Schnauze geben konnte. Sie zogen weiter, klopften von unten den Zug ab. Im Abteil schwiegen alle, außer einem langhaarigen Studenten, der summte „Völker hört die Signale“.
Der Zug kam auf dem Hauptbahnhof Hlavni nadrazi an. Er wurde 1871 gebaut und hieß zuerst Kaiser- Franz-Joseph-Bahnhof, hatte mir mein Vater erzählt. Und, dass die Strecke von Wien über Prag nach Budweis führt. Nun, nach Wien würde ich nie kommen, aber meinem Vater würde ich ein Bier, ein Budweiser Bier, mitbringen, das nahm ich mir vor, als ich die Bahnhofshalle durchquerte. Es war Mittag.
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