Die grauhaarige Vorsitzende der Kommission fragte mich, wie es mir beim Deutschen Fernsehfunk gefiele, was ich von meinem Studium der Regie erwarte und wie ich zu dem Slogan „Ein Regisseur in unserem Staat muss parteilich sein“ stünde. Als ich antworten wollte, schnitt man mir das Wort ab. „Es ist bereits alles bekannt, ich möchte mir das nicht anhören", warf der Parteisekretär ein und schaute in die Runde. Die Vorsitzende atmete schwer. Für ihn sei es unerklärlich, warum ich das Andenken von Marx und Lenin in den Schmutz ziehen wolle. Nach wenigen Minuten durfte ich gehen. Klaus wartete am Ausgang auf mich. „Ich weiß nicht, was da vor sich geht“, raunte er mir zu. Er flüsterte den ganzen Weg und drehte sich laufend um. Ich lief zum Adlergestell, um zu Peter zu gehen. Klaus sträubte sich anfangs, doch dann trabte er willig mit. „Peter wird es uns erklären, er weiß doch immer alles“, versuchte ich Klaus zu beruhigen. Wir klingelten am kleinen Haus am Ende der Lindenstraße. Frau Seipel, seine Wirtin, öffnete. Sie sah uns erschrocken an, dann stützte sie sich auf ihre Krücke und flüsterte: „Peter ist weg. Er musste innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen.“ Sie wies mit ihrer Krücke in Richtung Westen. Danach schenkte sie selbst gemachten Eierlikör ein und erzählte uns in ihrer Wohnung von ihrem verstorbenen Ehemann Gustav. Ein feiner Mann war er, dazu ein Künstler. In der Oper hat er gearbeitet, sagte sie und blickte auf ein Porträt, das auf einer alten braunen Kommode stand. Ich konnte kaum zuhören, der dicke Eierlikör verklebte meine Gehirnwindungen, doch ich dachte die ganze Zeit, irgendwo, irgendwann wirst du Peter wiedersehen. Dann wirst du ihn fragen, was war da los? Spät in der Nacht fuhr ich in meine Studentenbude und schlief unruhig bis in den späten Nachmittag hinein. In meinem Kopf explodierten Gespräche, Wortfetzen erreichten mich und hämmerten gegen die Schläfen.
Der Tag der Prüfung war gekommen. Die Aufgaben fielen mir leicht. Klaus saß neben mir. Er roch nach kaltem Rauch und schalem Bier. Er grinste breit unter seinem Wallrossbart: das machen wir doch mit links. Nach einer Woche wurden uns die Prüfungsergebnisse mitgeteilt. Drei Studenten waren durchgefallen, ich gehörte dazu. Klaus sah mich fassungslos an. „Du doch nicht“, stammelte er.
Das Angebot von Steil als Kameraassistentin zu arbeiten, lehnte ich ab. Aus Scham? Ich weiß es nicht mehr. Meine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin wurde nicht verlängert. Damals brauchte jeder Bürger eine Genehmigung für die Hauptstadt, um dort arbeiten und wohnen zu können. Mitarbeiter des Fernsehfunks bekamen automatisch eine. Ich gehörte nicht mehr dazu, flog aus meiner Studentenbude, da sie dem Fernsehfunk gehörte. Den Sommer über schlief ich heimlich in meiner ehemaligen Studentenbude. Ich half der Kellnerin in der Eckkneipe. Sie fragte nach Klaus. Doch der ließ sich nicht sehen. Ende August kamen die Studentinnen frohgelaunt und erholt aus den Ferien. Den Mädchen tat ich leid. Sie teilten mit mir ihre Geheimnisse und ihr Brot. Eines Nachts kontrollierte der Verwalter die Wohnung, entdeckte mich und schmiss mich raus. Eine schlimme Nacht.
Ich schleppte meinen Koffer in die Eckkneipe, die Kellnerin nahm ihn mir ab, deponierte ihn im Keller und spendierte mir einen Kaffee. Nach Schankschluss verließ ich die Kneipe. Müde schleppte ich mich zur letzten S-Bahn und fuhr zur Friedrichstraße. Stieg aus, lief zur Spree und setzte mich ans Wasser. Irgendwann lief ich die Friedrichstraße Richtung Osten, bis ich zur Invalidenstraße kam. Vor einem Hotel, es hieß „Neva“, standen russisch sprechende Gäste. Ich blieb stehen, blickte um mich. Die russischen Männer begannen leise zu singen. In der Ferne entdeckte ich eine Kirche mit einem wunderschönen schlanken Turm, der vom hellen Mondschein angestrahlt wurde. Ich lief weiter, angezogen von diesem Bauwerk, das Geborgenheit versprach. Ein metallenes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Zehn Schritte vor mir war eine hohe Mauer. Ich sah auf und blickte in die Mündung eines Maschinengewehres. Das Gewehr gehörte dem Posten, der seine Ehrenwache vor dem imperialistischen Schutzwall hielt. Kehrt Marsch, befahl mir eine innere Stimme. Auf meinem Rückzug in ungefährliche Straßenzüge sah ich an einem Hotel eine Tafel. Ein Sekretär und Hotelgehilfen wurden gesucht. In der Nähe befand sich ein kleiner Park. Ich setzte mich auf eine Bank. Der Mond strahlte auf ein Rondell, vergessenes Kinderspielzeug schwamm im Becken. Irgendwann, während die Zeit still zu stehen schien, schlief ich auf der Parkbank ein. Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich, ich fror entsetzlich, stand auf und hüpfte auf der Stelle, um warm zu werden. Aus einer Fontäne begann Wasser zu sprühen. Ich hielt meinen Kopf darunter, bis ich hellwach war. Ein großer schwarzhaariger Mann tauchte auf, um seinen Hals hing ein Autoreifen. Er grüßte mich: „Olympiakader, wat?“ Ich nickte. „Gehste mit zu „Franken“ Kaffeetrinken?“ fragte er. Ich nickte. Wir tranken in der Kneipe einen starken Kaffee. „Bin Kalle“, stellte er sich vor, „arbeite in der Reifenbude, Chausseestraße, Hinterhof, wenn wat is, kommste vorbei“. Er stand auf und bezahlte beide Kaffee. Ich sah ihn erstaunt an. „Oder kommst hier in die Kneipe, ick sitze hier jeden Abend. „Muss jetzt malochen, bis dann“. „Danke“, sagte ich. Er gab mir seine große schwielige Hand und ging. Wenige Minuten später verließ ich die Kneipe. Wieder sah ich mich um, las die Straßenschilder, die Kneipe befand sich Ecke Novalisstraße. Muss ich mir merken, dachte ich und lief zur Invalidenstraße. Wo war denn dieses Hotel mit den Stellenangeboten? Ich überlegte und fand es nach wenigen Minuten. Ein großes fünfstöckiges Haus, gebaut um die Jahrhundertwende. Der blonde Empfangssekretär beorderte mich zum ersten Stock. Dort befand sich das Personalbüro. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich klopfte und eintrat. Die Kaderleiterin ordnete ihre Personalakten, bis sie in Reih und Glied standen. Dann blickte sie zu mir auf. Ich bündelte meine restliche Energie: „Ich möchte mich bei Ihnen als Empfangssekretärin bewerben“. Sie fragte mich kurz nach meinem Werdegang. „Abitur, Arbeit am Fließband ...“ Hier unterbrach sie mich. „Das sind gute Voraussetzungen. Arbeit am Fließband, Erzeugung von Pappe. Pappe wird in unserer Republik dringend gebraucht“. „Und beim Fernsehfunk hat es Ihnen nicht gefallen“. Sie blickte mich fragend an. „Prüfung verhauen“, sagte ich. „Nun, das macht nichts, auch hier können Sie etwas werden. Außerdem sind wir in der Lage, ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin auszustellen“. Sie schob mir ein Papier zu, das ich unterschreiben sollte. In meinem Kopf hämmerte es: Unterschreib, du brauchst die Aufenthaltsgenehmigung für Berlin, du bist sonst eine illegale Person . Ich will hier nicht als Empfangssekretärin arbeiten , meckerte eine unterdrückte Stimme in meiner rechten Schädelhälfte. „Ingmar Bergmann, hilf mir“, flüsterte es in mein linkes Ohr. Erst jetzt fiel mir auf, in welchem Hotel ich gelandet war. Es gehörte dem FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR. Nun, das war mir egal. Nur das, was ich las, gefiel mir gar nicht. Du sollst nicht mit den Gästen aus dem kapitalistischen Ausland sprechen oder gar Freundschaft schließen . Es folgten weitere Verbote: Schriften jeglicher Art, Zeitschriften, Literatur, Propaganda müssen sofort der Hoteldirektion oder dem Parteisekretär übergeben werden. Die nächsten Punkte las ich nicht. Ich schob das Blatt zurück. „Unterschreiben Sie ruhig“, sagte die Kaderleiterin und lächelte mich freundlich an. „Es wird doch alles nicht so heiß gegessen, wie gekocht“, meinte sie augenzwinkernd. Ich würde viele Menschen kennen lernen, Menschen aus aller Herren Länder. Ich, dass junge Mädchen aus dem kleinen Ort über der Saale, ich würde mit ihnen reden, Französisch oder Englisch. Für einen Moment vergaß ich, dass meine Sprachkenntnisse eher mangelhaft waren. Ich würde viele Geschichten hören, lustige, spannende oder gar poetische. Vielleicht würde ich sogar einen Gast kennen lernen, in den ich mich verlieben könnte. Die Kaderleiterin brachte mich zur Tür und verabschiedete mich. Als ich am Empfang vorbeiging, sah ich eine zierliche Sekretärin bei der Arbeit. Diese bildhübsche Person strich sich über ihre Pagenfrisur und lächelte mich an, während ihr ein Kellner Kaffee servierte. „Constanze, dein Käffchen, meine Süße“, sagte er, küsste sie auf die Stirn und öffnete sich selbst eine Flasche Bier.
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