Hans war schon nach einer Woche mein Held. Als ich nach Dienstschluss die dunkle Invalidenstraße betrat, kam eine Gestalt, die an der Ecke lauerte, auf mich zu. Es war ein Hotelgast, der zu viel getrunken hatte. Er blieb vor mir stehen, umarmte mich und versuchte mich zu küssen. Als ich ihn abwehrte, griff er mich tätlich an. Plötzlich stand Hans neben mir, ich sah seine Faust an meinen Augen vorbeifliegen. Der betrunkene Mann stürzte und lallte etwas Unverständliches. Hans, mein edler Ritter. „Du zitterst ja“, bemerkte er und legte den Arm um mich. Er führte mich in die kleine Kellerkneipe neben dem Hotel. Wir setzen uns in eine Ecke und Hans bestellte Bier. Nach dem dritten Bier sah ich nur noch Alain Delon in ihm. Ich musste an „Die schwarze Tulpe“ denken. Der Titelheld beraubte als verkleideter Ritter seine reichen Freunde und schenkte das Geld den Armen. Er kämpfte für das Recht der Unterdrückten und Gedemütigten, dachte ich nach einem neuen Glas. Nach dem fünften Bier war Hans mein „Mein Held und Ritter“. Hans sah mich an. Dann fuhr er mich mit dem Dienstwagen des Direktors, einem großen, teuren Volvo nach Hause. Es nieselte. Die Gaslaternen zeichneten auf der regennassen Asphaltstraße helle Lichtinseln. Wir hielten in der stillen Nebenstraße, in der ich wohnte. Meine Hände zitterten vor Aufregung. Hans küsste mich, die Scheibenwischer rasten über die Frontscheibe. Er hatte vergessen, sie auszuschalten. Ich saß vollkommen durcheinander im warmen weichen Sitz des Autos. Gedankengewitter in meinem Hirn. Erst wurde ich durch einen betrunkenen Mann belästigt, jetzt streichelten mich die Hände eines anderen Mannes zärtlich. Mein Mund öffnete sich leicht, ich spürte seine festen warmen Lippen. Mein Herz schlug wie wild. Sein Verlangen wurde immer heftiger, doch irgendwann legte sich eine bleierne Müdigkeit über mich, so dass ich sein Begehren nicht erwidern konnte, ihn sanft von mir drückte. „War wohl ein bisschen zu viel für dich“, kommentierte er die Situation. Er gab mir einen Abschiedskuss und fuhr los. Hans trennte sich von seiner Freundin Helge. Sie nahm oft Freunde mit, um weiter zu trinken, während Hans zum Hotel fuhr, um zu arbeiten. „In der letzten Zeit haben sie sich sogar geschlagen“, vertraute mir die Garderobiere an. Es gab im Hotel nichts, was sie nicht wusste. Manchmal beobachtete sie mich heimlich. Ob sie etwas ahnte …?
Hans hasste Tratsch und vermied es, seinen Arm im Hotel um mich zu legen, doch er brachte Selbstgekochtes oder Geschmortes für mein Abendbrot mit. Einmal stellte er uns Kuchen auf die Garderobe. „Hab ein neues Rezept ausprobiert, kostet mal“, sagte er. Das Stück Kuchen schmeckte sehr gut. Mir dagegen fehlte jegliches Interesse am Backen oder Kochen. Meine Mutter backte jeden Sonnabend herrlichen Kuchen. Sie freute sich, wenn es uns Kindern schmeckte. Rühren durften wir, auch die Schüssel ausschlecken, aber alles andere machte sie viel lieber selber. Hans erzählte mir von seiner Mutter Lore, dass sie Blumen liebe und im Sommer heizen würde. Sie wäre klein und quirlig, sein Vater Gert dagegen groß, dick, aber trotzdem sehr beweglich. Nun rief Hans seine Eltern an, erzählte seiner Mutter: ich hab jetzt eine neue Freundin mit Abitur. Mit ihr kannst du über Literatur sprechen und mit Vater kann sie Walzer tanzen, sogar linksrum. Seine Mutter lud uns fürs Wochenende ein. Schon am nächsten Tag rief sie Hans an und fragte, was sie für uns kochen solle. Hans grinste mich an. Am Wochenende fuhren wir aufs Land. Seine Eltern besaßen ein zweistöckiges Haus mit Hof, Hund und Scheune in einem kleinen Dorf bei Berlin. Ich wurde von seinen Eltern freudig aufgenommen und Hans ausgiebig gelobt: gute Wahl, das Mädchen. Hans stand mit breiter Brust im Wohnzimmer und zeigte mir dann die vielen Pflanzen auf dem Fensterbrett. Nachdem mir das Qualitätssiegel aufgedrückt worden war, fühlte ich mich wie Exquisitware. Ein Fest wurde veranstaltet und ich tanzte mit Gert, dem Vater von Hans, Walzer. Nach und nach stellten sich die Freunde, die Nachbarn und die entfernten Nachbarn aus dem Dorf ein. Die Funktürme thronten über den niedrigen Dächern des Dorfes und sandten die neuesten Nachrichten aus: Hans hat eine Freundin, die kann Walzer linksrum tanzen. Hans wohnte in einem Nebengebäude des Hotels. Wenn er auf der Arbeit war, kamen die Zimmerfrauen und reinigten sein Zimmer. Sie hatten bei ihm nicht viel zu tun, er baute sein Bett, wie er es bei der Armee gelernt hatte. Sein Zimmer befand sich direkt unter dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes. Schien die Sonne, sah ich die „Goldelse“ aufblitzen im Tiergarten hinter dem Brandenburger Tor. Unerreichbar für mich und für jeden, der nicht so prominent war, dass er nach West-Berlin reisen durfte.
Der Herbst zog ein, die Vögel versteckten sich im Weinlaub, das in allen Farben leuchtete. Weit über den mit Antennen beladenen Dächern der Stadt formierten sie sich zu einem großen offenen V. Sehnsuchtsvoll sah ich ihnen nach und fühlte mich eingeengt in der großen Stadt und von den vielen Menschen. Noch konnte Hans sein Motorrad benutzen, die Temperaturen verweilten bei 15 Grad. An einem freien Tag fuhren wir nach Potsdam, spazierten durch die so prächtig angelegten Gärten und tranken in einem Gartenlokal dünnen Kaffee. Hans erzählte von seinem Sommerurlaub am Schwarzen Meer. Ich konnte ihm nicht zuhören, neue, immer wiederkehrende Gedanken quälten mich. Mein Sommer war verflogen und meine Illusionen auch. Was sollte ich tun, fragte ich mich. Im Hotel bleiben, nur wegen der Aufenthaltsgenehmigung für Berlin? Ich sah, wie der Nebel sich über die Herbstblumen legte und wehmütig dachte ich an das farbenprächtige Laub im Garten meines Vaters. Hans legte seinen Arm um mich. Jetzt schmeckte sogar der quasi-Kaffee. Ich fühlte mich geborgen im großen herbstlichen Garten von Sanssouci. Von irgendwo klang eine Flöte. Hans hielt meine schmalen Finger in seiner kräftigen Hand. „Der Alte Fritz war ein bedeutender Feldherr“, platzte es unvermittelt aus ihm heraus. „Er hat auch Flötensonaten komponiert“, ergänzte ich. „Nee“, empörte sich Hans. „Das war ein anderer. Flöte passt doch nicht zu einem echten Preußen“. „Doch“, konterte ich, „und geschrieben hat er auch“. „Bei dir müssen wohl alle schreiben können.“ Hans grinste und zog mich fester an sich. Wieder spürte ich seine körperliche Anziehungskraft, nahm seine Hand, drückte sie leicht an meine Wange und umarmte ihn dann stürmisch.
Am nächsten Tag hatte mich der Alltag wieder. Irgendwie fühlte ich mich im Hotel nicht dazugehörig. Hans fuhr den Direktor zu einem dreiwöchigen Lehrgang nach Dresden. Er fehlte mir, und ich sehnte mich nach seiner Nähe. Die Arbeit fiel mir schwer. Die Koffer zogen an meinen Armen. Die Geschwätzigkeit der Garderobiere zehrte an meinen Nerven. Anders verhielt es sich mit den Gästen, sie kamen aus dem Libanon, aus Zypern, aus Afrika, aus den USA. Frauen aus Ghana drückten mich freundlich an sich. Manchmal legte mir ein Gast schüchtern Trinkgeld in meine Hand, ich umschloss es mit meinen Fingern, verbarg es vor den Blicken der Garderobiere und der Zimmerfrauen. Sie empfanden mich als Kuriosum des Sozialismus, gaben mir Ratschläge, doch kaum einer half mir beim Tragen. Die Zimmerfrauen bekamen Seide aus Indien oder kleine Pyramiden aus Ägypten, Nicht selten schlenderte ich durch die Hotelgänge und so manches Mal verirrte ich mich. Mir fehlte ein Ort, an dem ich zur Ruhe und Besinnung kommen konnte. Endlich hatte ich einen ungewöhnlich schönen Schlupfwinkel gefunden, um in den wenigen freien Minuten zu entspannen, mein Brot zu essen und Kaffee zu trinken, und nahm ihn für mich in Beschlag. Es war eine enge fensterlose Kammer, sie lag unter der Treppe, die zum ersten Stock führte. Das Hotelpersonal benutze sie als Abstellraum. Verstaubte Akten lagen neben Handfeger und Schaufel. Ich räumte diesen Raum auf, ließ vom Hauselektriker die Lichtleitung reparieren und bezog mein „Büro“. Hinter den entstaubten Akten versteckte ich meine Bücher, die ich von meinem Trinkgeld gekauft hatte. In diesem engen Bretterverschlag fühlte ich mich wohl.
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