In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1967 lief die Ginnheim von Bremen aus. Erst am 9. Mai des folgenden Jahres sollten wir wieder in Deutschland ankommen. Vor uns lag eine räumliche und zeitliche Strecke voller Ungewissheiten und Abenteuer. Aber das wollten wir ja so, obwohl Hildrun gerne behauptet, dass ich es immer sei, der mit unmöglichen Ideen das Leben zu würzen versuche...
Wir nahmen es locker und sagten uns, die Reise geht eben so weit und so lange wie uns das ersparte Geld reicht. Uns standen rund 7.000,- DM zur Verfügung. Das war ein Betrag, den nicht jeder freiwillig bereit war, für so eine ungewisse Reise auszugeben. Wir würden noch Argumente zu hören bekommen, die uns in die Nähe von Spinnern und Hasardeuren rückte. Im Sinne von: "Dafür so viel Geld ausgeben? Was hättet ihr stattdessen in der Zeit für Geld verdienen können!"
Wir spekulierten auf jeden Fall mit der Möglichkeit, irgendwo zu arbeiten, um unsere Reisekasse aufzufüllen. Das sollte sich allerdings als Fehlkalkulation entpuppen. Es bot sich einfach keine Gelegenheit.
Der Abschied von unseren Lieben, unseren Müttern, Hildruns Schwestern, von Freunden und Bekannten, lag hinter uns. Für unsere Mütter war es bestimmt nicht einfach gewesen. Hildruns Mutter war erst seit zweieinhalb Jahren Witwe, zeigte sich aber sehr tapfer als ich ihr die Tochter im wahrsten Sinne des Wortes in eine ungewisse Zukunft entführte. Meine Mama war ihren vagabundierfreudigen Seeheini bereits gewöhnt. Wir, vor allem ich, waren vom Gemüt und der Lebenserfahrung her einfach noch zu jung, um nachvollziehen zu können, wie schmerzhaft das Abschiednehmen für zurückbleibende Elternteile gewesen sein musste.
Der Abschied von Freunden fiel leichter. Einige hatten, wenn wir von unseren Weltreiseträumen sprachen, sinngemäß gesagt: "Davon reden viele, aber verwirklichen tut das dann keiner!"
Die Schiffsleitung der Ginnheim , allen voran der Erste Offizier, behandelten uns äußerst liebenswürdig. Als Überarbeiter hatten wir keinerlei Vorzugsbehandlung erwartet und hätten mit jeder normalen Matrosenkammer vorlieb genommen. Aber wir wurden in der Kabine des Supercargos einquartiert, die alle Qualitäten einer Passagierskammer hatte. Schließlich seien wir auf der Hochzeitsreise, sozusagen in den Flitterwochen. Ein Supercargo ist übrigens eine Art Ladungsexperte, der oft im Auftrag des Charterers mitreist und die Ladung überwacht.
Wir arbeiteten natürlich, schrubbten Gänge und Treppen und brachten die Räumlichkeiten auf Hochglanz, erledigten eben all die Tätigkeiten des sogenannten Feudelgeschwaders , wie Hein Seemann gerne die Stewards und Stewardessen bezeichnet. Etwas spannender war das Aufnehmen des Proviantbestandes. Da tummelten wir uns dann zwischen Regalen voller Konserven oder zwischen tiefgefrorenen Schweine- und Rinderhälften. Auch bei den Arbeitszeiten drückte der Erste Offizier seine freundlichen Augen zu und verdonnerte uns zu regelmäßigen langen Mittagspausen. Ob er um unser Liebesleben besorgt war?
Das Wetter auf dem Nordatlantik war grau, stürmisch oder neblig, wie so oft in dieser Meeresregion. Der Kurs der Ginnheim war ein so genannter Großkreis, das Schiff fuhr also nicht auf einer geraden Linie über den Atlantik. Da die Erde eine Kugel ist, sind Verbindungen, die in einem Bogen näher zum Pol hin verlaufen - also zum dünneren Teil der Kugel -, kürzer als gerade Kurslinien. Sphärische Trigonometrie ist das Zauberwort der Nautiker. Für uns bedeutete es, dass wir ziemlich weit im Norden die kanadischen Gewässer erreichen würden: zwischen Labrador und der Insel Neufundland.
Der Seegang machte Hildrun etwas zu schaffen. Es war empfindlich kalt geworden als wir endlich die Küste Kanadas sichteten und zwischen Neufundland und Labrador in die Belle-Isle-Straße einliefen. Hier konnten wir tatsächlich Eisberge bestaunen. Hildrun zählte sieben Stück. Und wir sahen mehrere Herden von Schwertwalen, den so genannten Killerwalen.
An diesem Abend kam der Erste Offizier zu einem Glas Bier bei uns vorbei. Er fühlte sich ziemlich krank und hatte von unserer Reiseapotheke und den Medizinbüchern gehört, mit denen uns die Pharmafirmen ausgerüstet hatten. Er hatte einen großen roten Fleck am Bein, von dem sich ein breiter roter Streifen das ganze Bein hochzog. Auch die Leistendrüse war stark angeschwollen. Unsere schlauen Bücher verrieten uns, dass es sich offensichtlich um eine Lymphbahnentzündung handeln musste, die Vorstufe zu einer Vergiftung.
Nun sind Handelsschiffe grundsätzlich mit einer breit angelegten Notfallapotheke samt nötigem Instrumentarium ausgerüstet. Vermutlich wollte sich der Erste nur noch mal rückversichern - und wir waren zufrieden, dass unsere Reiseapothekenausrüstung in diesem Falle funktioniert hatte. Dem Ersten wurden dann Alkoholumschläge und die Einnahme von Antibiotika verschrieben, was letzten Endes auch helfen sollte.
Die Fahrt auf dem Sankt-Lorenz-Strom brachte Erinnerungen an meine Seefahrtzeit. Die Vorbeifahrt an Quebec-City war eindrucksvoll. Am 4. Juli 1967 ankerten wir vor Montreal, wo die Ginnheim einklariert wurde. Wir reisten offiziell in Kanada ein und erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate. Noch war die Reise nicht zu Ende. Der Sankt-Lorenz-Strom führte uns von der Provinz Quebec nach Ontario, wo er die Grenze zwischen den USA zur Linken und Kanada zur Rechten bildete. Wir fuhren am berühmten Archipel Thousand Islands vorbei, gelangten schließlich in den Ontario-See und erreichten am Donnerstag, den 6. Juli, zwei Wochen nach unserer Abfahrt von Bremen, Toronto.
Wir hatten unseren VW-Bulli mit allerlei Campingausrüstung, Bettwäsche, Schlafsäcken, Wassertanks etc. voll gestaut, was uns freundlicherweise von der Verladefirma erlaubt worden war. Normalerweise sollen die Fahrzeuge nicht mit unnötiger Zusatzfracht, unter Umständen noch fahrlässig gestaut, belastet werden. Ich beobachtete den Löschvorgang der Fahrzeuge und war ziemlich geschockt, mit welcher fast arroganten Brutalität die Schauerleute die nagelneuen VW-Fahrzeuge entluden und dann in Parkposition brachten. Die Jungs bretterten erbarmungslos über das Hafengelände. Wie Rallyefahrer auf Höllenpisten durch die Steinwüste. Wahnsinn!
Unser Camper stand ziemlich weit unten in einem der Laderäume und ich sah, dass der Schauermann, der sich unseres Fahrzeugs annahm, Schwierigkeiten mit der Gangschaltung hatte. Schnell war ich unten in der Luke und fuhr unseren Bulli selber auf die Löschvorrichtung, jeweils zwei Metallstangen zwischen denen die Vorder- und Hinterräder beim Hochhieven hineinrutschten. Der Kranführer fragte mich, ob ich gleich im Fahrzeug sitzen bleiben wollte.
"Sure, na klar", sagte ich, und schon flog ich hoch aus der Luke, und dann recht sanft wieder an die Pier, wo ich schnell den Motor startete und nach achtern zur Gangway des Schiffes fuhr.
"Das lief ja super", dachte ich und freute mich, unser Fahrzeug mit dem restlichen Gepäck vollpacken und endlich starten zu können. Ich schloss das Fahrzeug ab und wollte mich gerade vom Camper abwenden als mich ein Mann anfauchte: "Don't touch that car! - Fass bloß das Fahrzeug nicht an!"
"Das ist unser Camper, ich bin der Besitzer..."
"Don't touch that car! Hier hat niemand etwas anzufassen! Es sei denn Sie gehören zu der Löschmannschaft der Hafengesellschaft!"
Ein Schauermann, der das in der Nähe beobachtet hatte, flüsterte mir zu: "Sei vorsichtig! Das ist der Chief Checker von der Gewerkschaft, hau besser ab!"
Puh! Da hatte ich in ein Wespennest gestochen. Zum Glück war diesem Typ entgangen, dass ich höchstpersönlich den Campingbus aus der Luke gebracht hatte. Wir hätten uns eine Menge Ärger eingehandelt, denn er verlangte zunächst eine Genehmigung des Zolls.
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