Nach einer Weile wird ihr bewusst, dass etwas nicht stimmt. Das Haus ihrer Eltern scheint nie in Sicht zu kommen. Wie kann das sein? Ist sie in ihrer Panik etwa schon daran vorbeigerannt?
Sie verlangsamt ihren Schritt und atmet heftig. Dann dreht sie sich rasch um und ihr Blick gleitet über die Häuser in der Umgebung. Nein. Daran liegt es nicht.
Sie will weiter gehen und übersieht dabei einen auf dem Gehweg liegenden Steinbrocken. Jade stolpert vornüber. Instinktiv reißt sie die Hände hoch, um sich abzufangen. Sie bekommt den Mast einer Straßenlaterne zu greifen und kann sich dadurch gerade noch rechtzeitig vor einem Sturz bewahren. Mit klopfendem Herzen richtet sie sich wieder auf. Ihr Atem geht unregelmäßig.
Plötzlich vernimmt sie ein neues Geräusch. Sie horcht.
Sind das Schritte, die durch die Stille hallen? Jade hält den Atem an, obwohl ihre Lungen brennen und nach Sauerstoff schreien.
Sie wittert Gefahr. Von ihrem Instinkt getrieben rennt sie los, so schnell sie kann. Hin und wieder wirft sie ängstlich einen Blick über die Schulter, doch ihr Verfolger bleibt weiterhin unsichtbar.
Und trotzdem meint sie den Hauch seines Atems im Nacken zu spüren.
Abermals wirft sie einen panischen Blick zurück. Als sie den Kopf wieder nach vorn dreht, ist es bereits zu spät, um abzubremsen. Sie rammt direkt in jemanden hinein und fängt lauthals an loszuschreien.
„Hey,“ ruft eine tiefe Stimme. „Jade, ich bin es.“
Doch Jade hört nicht. Sie schlägt nur wie wild um sich, kratzt und beißt.
„Jade!“
Sie hebt den Kopf und hält unmittelbar inne. Ein grünes Augenpaar mustert sie besorgt. Sie keucht und reißt ungläubig die Augen auf.
„Du?“ haucht sie atemlos. „Du...was machst du denn hier?“ Ihre Stimme zittert und sie fährt sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
„Geht es dir gut?“ Er legt sanft die Hand auf ihre Schulter.
„Nein,“ sagt sie jetzt. „Nein, es geht mir nicht gut.“
„Tut mir leid,“ sagt er leise. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Das hast du aber.“ Sie fühlt sich schrecklich. Wie unangenehm! Sie hat sich in ihrer Panik vor ihm zum Affen gemacht. Was mag er jetzt nur von ihr denken? Sie hebt den Kopf und mustert ihn.
Seit gestern hat sie diesen attraktiven Fremden nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie hat sich gefragt, ob sie ihn jemals wieder sehen wird. Und nun steht er auf einmal vor ihr. Völlig unerwartet und plötzlich. Und wie beim letzten Mal raubt seine Nähe ihr den Atem.
„Wie war nochmal dein Name?“ fragt sie, um wieder etwas Normalität in die Situation zu bringen.
„Damon.“
„Richtig. Damon.“ Sie fährt sich nervös durch die Haare. „Hör mal Damon, bist du mir gerade gefolgt?“ Ihre Stimme klingt heiser und sie räuspert sich.
„Ja.“
„Wie bitte?“ Jade ist entsetzt. Ist Damon etwa ein brutaler Serienkiller, der jungen Mädels auflauert, um ihnen die Kehle aufzuschlitzen? Beklommenheit macht sich in ihr breit.
„Du musst keine Angst vor mir haben,“ sagt Damon amüsiert.
„Ach nein?“ Es ist offensichtlich, dass sie an seinen Worten zweifelt. „Warum nicht?“
„Weil kein Grund dafür besteht.“
„Das behauptest du, “ meint sie mit einem ironischen Unterton in der Stimme.
„Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.“
„Entschuldigen?“ Jetzt ist sie verwirrt. „Wofür?“
„Ich bin gestern relativ schnell verschwunden, als es dir so schlecht ging.“
„Ja,“ sagt sie. „Ich dachte schon, es lag an mir.“ Sie lächelt schüchtern.
„Es lag nicht an dir, soviel sei dir versichert.“
„Okay.“ Eine kurze Pause entsteht. „Woran lag es dann?“ wagt sie jetzt zu fragen.
„Es gab Gründe.“
„Gründe,“ wiederholt sie.
„Da war ein Notfall.“
„Oh?“
„Ich bekam einen Anruf und musste sofort los.“
„Nichts schlimmes, hoffe ich?“
„Es wird schon wieder werden,“ sagt er abschließend.
Jade runzelt verwirrt die Stirn. Seine vagen Andeutungen und nicht greifbaren Sätze kommen einer Zurückweisung gleich. Sie zieht sich innerlich vor ihm zurück.
„Okay.“ Sie räuspert sich. „Mach dir keinen Kopf. Ich...ich muss dann auch mal los.“
Seine Augen flackern auf. Oder liegt es einfach nur an dem seltsamen Licht heute? Sie versucht ihr Unbehagen abzuschütteln und macht Anstalten weiter zu gehen.
„Darf ich dich ein Stück begleiten?“ fragt er jetzt.
Sie hält in ihrer Bewegung inne und sieht ihn überrascht an.
„Klar,“ sagt sie dann erstaunt. „Wenn du möchtest.“
„Es wird mir eine Ehre sein.“
Der etwas altmodische Satz lässt Jade leicht erröten.
Sie laufen langsam nebeneinander her. Nach einer Weile bemerkt sie mit Verwunderung, dass ihr nicht mehr kalt ist. Sie blickt hinauf zum Himmel. Nur noch wenige Wolkenfetzen verdunkeln die Sonne.
„Seltsam,“ murmelt sie.
„Was ist seltsam?“
„Das Wetter. Vorhin ist es recht kalt geworden und der Himmel war Wolkenverhangen...“ Sie legt nachdenklich den Kopf schief. „Und ganz plötzlich ist es wieder warm. Die Sonne kommt schon wieder durch.“
„Ja. Das Wetter hat so seine Tücken,“ sagt er und lächelt geheimnisvoll.
Jade wirft ihm einen fragenden Seitenblick zu, doch Damon starrt weiterhin geradeaus.
Jetzt betrachtet sie sein schönes Profil. „Du bist also neu hier?“ sagt sie nach einer Weile.
„Ich schätze, es ist wohl offensichtlich?“ Er grinst schelmisch.
„Das hier ist eine Kleinstadt. Man kann also nichts geheim halten. Und ein neues Gesicht fällt nun mal auf.“ Sie lächelt.
„Verstehe.“ er kratzt sich hinterm Ohr. „Ich bin vor einigen Wochen hergezogen.“
„Und gefällt es dir soweit?“
„Soweit ganz gut. Hübsche Kleinstadt.“
„Aber nicht besonders aufregend,“ seufzt Jade.
„Wir werden sehen,“ meint er nur.
Jade hat das Gefühl, nicht aus ihm schlau zu werden. Seine Bemerkungen sind vieldeutig und mysteriös.
„Wo wohnst du eigentlich?“ will sie dann wissen.
„Ich wohne am Magic Pond.“
„Am Magic Pond?“ Sie bleibt stehen und reißt erstaunt die Augen auf.
„Ja.“ Er sieht sie lächelnd an. „Ist das so merkwürdig?“
„Naja...es ist nicht gerade billig dort zu wohnen.“
„Ist es auch nicht,“ bestätigt er. „Ich wohne in einem kleinen Holzhaus direkt an dem See.“
„Ich bin beeindruckt.“
Sie gehen weiter.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Wie alt bist du?“
„Warum?“
„Ja also...es ist nur...du bist mit Sicherheit älter als ich, aber in meinen Augen nicht gerade alt genug, um dir ein eigenes Haus leisten zu können.“ Sie räuspert sich. „Tut mir leid. Das klang jetzt echt bescheuert.“
„Nein, das ist schon in Ordnung,“ unterbricht er sie freundlich. „Du hast ja recht. Ich bin fünfundzwanzig. Und ich habe das Privileg bereits jetzt schon sehr viel Geld zu besitzen.“
„Verstehe. Du hattest also Glück.“
„Das ist Ansichtssache. Es handelt sich hierbei um das Erbe meiner Eltern.“
„Deine Eltern sind beide schon tot?“ Sie sieht ihn entsetzt an.
„Ja.“ Er betrachtet sie freundlich. „Ob ich Glück hatte ist daher fraglich.“
Jade sieht ihn beschämt an. „Tut mir leid, ich wollte nicht....“ stottert sie.
„Kein Problem. Es ist schon lange her.“
„Wie lange?“ fragt sie, bevor sie sich rechtzeitig auf die Zunge beißen kann.
„Ich war zwölf.“
„Zwölf,“ wiederholt sie schockiert. „Wie...?“ Die Frage bleibt ihr im Hals stecken. Das geht sie wirklich nichts an.
„Sie sind ermordet worden.“
Jade wird heiß und kalt vor Entsetzen. „Oh mein Gott. Das tut mir so leid.“
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