Es war völlig still, das einzige Geräusch war Lisas Atem. Störend, ja. Ihr lautes Schnaufen erschien ihr obszön, doch sie konnte ja auch schlecht die ganze Zeit die Luft anhalten.
Lisa schloss die Augen. Noch bevor das Wesen ihre Hand berührte, fühlte sie es. Als gäbe es zusätzlich zu den sichtbaren Tentakeln noch weitere, unsichtbare, die sich weiter vom Körper entfernten und den ganzen Raum durchdrangen. Sie spürte auf ihrer Haut eine Wärme, die auch Kälte sein konnte.
Sie öffnete die Augen, als der Ba sicher in ihrer Handfläche saß. Seine großen schwarzen Augen glichen den Facettenaugen von Insekten, aber sie wiesen nicht das typische Gitternetz auf.
Die Augen das Ba waren wie zwei Brunnen. Unendlich tief reichten sie, bis zu den steinernen Wurzeln der Welt, wo es nicht heiß war, sondern eiskalt.
Das Wesen war nicht zu irgendeiner Art sprachlichem Ausdruck fähig, aber Lisa verstand es auch so.
Sein Hunger auf Leben erfüllte ihr Herz mit Freude.
Du bekommst, was du wünschst, dachte sie und versuchte, ihre Gedanken in Bilder zu übersetzen.
Wie jedes Mal blätterte Lisa zuerst auf die letzte Doppelseite. Dort hatte Jia Ling Platz für sich selbst reserviert. Mit Bleistift hatte sie ihren Namen an den oberen Rand geschrieben. Lisa betrachtete ihren zarten und doch präzisen Strich und fuhr ihn in Gedanken nach.
Lisa hatte ihr gemeinsames Klassenfoto hineingeklebt. Das Foto war nicht sehr scharf, vielleicht war auch der Abzug schlecht. Jia Lings Gesicht war nur ein heller Fleck, umrahmt von ihren schwarzen Haaren und den unvermeidlichen Zöpfen. Die immer so ernst dreinblickenden Augen und der schmale Mund ließen sich nur erahnen.
Daneben klebte ein Foto, das Jia Ling und sie zeigte, mit Papas altem Handy fotografiert, kurz bevor sie selbst ein eigenes bekommen hatte. Das Foto war aufgenommen worden, als Jia Ling bei ihr übernachtet hatte, im Hintergrund sah man die gelbe Lampe über dem Esstisch. Sie selbst war unscharf, weil sie sich bewegt hatte, dafür war Jia Ling gut zu erkennen. Wenn Lisa das Bild betrachtete, hatte sie das Gefühl, den Moment zurückholen zu können. Das musste doch möglich sein. »In der Vergangenheit leben«, das war ein Ausdruck, den sie mal gelesen hatte, aber in Wirklichkeit war das nicht möglich. Oder?
Auf der rechten Seite waren Zeichnungen von Jia Lings Ba. Sie hatte den schönsten Seelenvogel von allen, Lisas ungelenke Kritzeleien wurden ihm nicht gerecht. Er schimmerte blau und schlug sanft mit zwei hintereinander liegenden Flügelpaaren. Wenn man ihm in die Augen sah, spürte man Jia Lings schöne Seele.
Sie strich über die Seite, dann presste sie die Lippen zusammen und blätterte vor. Die Seite des Hausmeisters war weit weniger aufwendig. Sein Name, das Todesdatum und ein kurzer Artikel aus einer Boulevardzeitung. Auf dem Foto war ein schwarzer Balken über seinen Augen, aber man konnte ihn trotzdem ganz gut erkennen. Dazu eine Zeichnung seines Ba, die gar nicht schlecht gelungen war. Vielleicht legte sie bei ihm auch nur keinen so hohen Maßstab an wie bei Jia Ling.
Der kalte Wind ging ihr durch und durch. Lisa war sich sehr clever vorgekommen, weil sie einen Jogginganzug trug, aber jetzt wünschte sie sich, sie hätte zumindest eine warme Strumpfhose darunter angezogen.
Den weiten, unförmigen Jogginganzug hatte sie schon lange, heutzutage trug niemand mehr so etwas. Heute trugen Jogger enge, sexy Sachen aus glänzender Hightech-Kunstfaser. Bestimmt würde sie darin auch nicht so frieren. Andererseits wäre es dumm, sich extra etwas Neues zu kaufen, was sie am Ende womöglich doch gleich wegwerfen musste. So reich war sie leider nicht, dass sie sich derartige Spinnereien leisten konnte.
Und sexy musste sie auch nicht aussehen. Heute zumindest nicht.
Es war ein sonniger Novembertag gewesen; wenn man in der Sonne war und die Augen schloss, konnte man glauben, der Altweibersommer wäre zurückgekehrt. Als Lisa ihr Fahrrad bestieg, sog sie die frische Luft ein und überlegte, woher der würzige Geruch herrührte.
Erst als sie die Stadt verlassen hatte und an einem Parkplatz vorbeikam, an dem zwei orangefarben gekleidete Arbeiter einen großen Laubhaufen aufschichteten, fiel es ihr ein. Der Geruch kommt vom vermodernden Laub. Es ist der Duft des Todes.
Oben auf dem Turm war von Spätsommer und Wärme nichts mehr zu spüren. Ein weit herausragendes Dach schützte die Aussichtsplattform in etwa 30 Metern Höhe vor Regen oder Schnee, verhinderte aber auch ebenso zuverlässig, dass die Sonne sie wärmte. Und den Wind hielt das Dach ebenfalls nicht ab.
Lisa war einmal mit Marc hier gewesen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Er, ganz alter Hase, der damals immerhin schon seit zwei Semestern hier studierte, wollte der frisch Angekommenen gnädig die Umgebung zeigen. Sie erinnerte sich an seine Unsicherheit und Stottern, als sie ihn fragte, wie ein Berg hieß, zu welchem Ort ein bestimmter Kirchturm gehörte. Schnell merkte sie, dass er überhaupt keine Ahnung hatte. Sie fand das süß und irgendwie charmant. Damals.
Später verriet er ihr, dass er sie damals nur auf den Turm geschleppt hatte, weil er sie küssen wollte. Aber nicht einmal das hatte er sich getraut, selbst die Initiative zum ersten Kuss war von ihr gekommen.
Grimmig blickte sie in die Ferne, entschlossen, vor dem bisschen Kälte nicht zu kapitulieren. Die runden Hügel lagen noch im Sonnenlicht, während aus den Tälern bereits feiner, weißer Nebel kroch, der bald alles mit einem Spinnennetz aus Feuchtigkeit und Kälte überziehen würde.
Noch zehn Minuten, ich kann von Glück sagen, wenn ich mir nicht den Tod hole, dachte sie.
Ha-ha.
Sie schniefte und schloss die Augen, in der Hoffnung, dass die Zeit schneller vergeht. Sie versuchte, sich an den Yogakurs in der Volkshochschule zu erinnern, den sie vor ein paar Jahren belegt hatte, um während der Abiturprüfungen ruhiger zu sein. Leider war alles, was ihr dazu noch einfiel, der Gummigeruch der Turnmatten und das Ächzen der anderen Teilnehmerinnen beim Versuch, eine der fürchterlich unbequemen Positionen länger als eine Sekunde beizubehalten.
Ein Geräusch. Als hätte sie es herbeigeschworen. Sie ging zur Brüstung und sah nach unten. Zwei Fahrradfahrer waren angekommen, sie stellten ihre Räder auf dem Parkplatz ab. Einer, Lisa glaubte, einen Mann zu erkennen, drehte den Kopf nach oben. Sie zuckte kurz zurück, aber unter dem dunklen Dach war sie sicher nicht zu erkennen. Bestimmt hatte er ihr Fahrrad gesehen und fragte sich, ob schon jemand hier war. Ein helles Gesicht unter einer dunklen Mütze, vielleicht auch dunklen Haaren.
Der Begleiter, vermutlich eher die Begleiterin , sah nicht nach oben, sondern sah sich nach allen Seiten um. Nervös?
Die beiden stiegen die Treppen hoch, Lisa hörte ihre näherkommenden Schritte, bei jeder Stufe schien der Ton höher zu werden, als würden sie ein Xylophon erklimmen.
Jetzt war ihr nicht mehr kalt, nervös überlegte sie, wo sie sich hinstellen sollte, was sie sagen, wie sie sie ansehen sollte.
Es war immer das Gleiche, man konnte noch so viel planen, am Ende lief es auf Instinkt und Intuition hinaus.
Ein helles Kichern drang zu ihr empor, wie sie vermutet hatte, war einer der Besucher ein Mädchen oder eine junge Frau. Doch nicht etwa auch Studenten? Wie würde sie reagieren, wenn es Kommilitonen waren? Womöglich Bekannte von ihr oder von Marc?
Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken abzuschütteln. So klein war die Stadt nun auch wieder nicht. Oder doch? Irgendwie traf man hier immer dann Bekannte, wenn man das gerade überhaupt nicht brauchen konnte.
Eine tiefe Stimme drang von unten zu ihr. Erklärte etwas. Warum erklären Männer eigentlich so gern? Vermutlich versprach er ihr Wunder was für einen Ausblick. Und wollte doch nur mit ihr allein sein, seine Lippen auf ihre pressen, ihr die Zunge in den Mund schieben, vielleicht ihren Busen oder ihren Hintern anfassen.
Читать дальше