Sie kam mit Kindern nicht allzu gut zurecht. Sie mochte sie auch nicht besonders, weil sie kein Feingefühl hatten und unhöflich und unberechenbar waren. Wenn sie gezwungen war, sich um eines zu kümmern, wusste sie nie, was sie sagen sollte.
Trotzdem.
Scheppernd fiel die Metalltür hinter Lisa zu. Der Mann sah weg, als sie sich näherte. Tat so, als müsste er gerade ganz dringend etwas in der entgegengesetzten Richtung inspizieren.
Das personifizierte schlechte Gewissen, dachte sie. Wenn noch irgendein Zweifel bestanden hatte, war er jetzt ausgeräumt.
Sie ging ganz nahe zu ihm hin. »Komm in den Park, in den Pavillon. In fünf Minuten.«
Sie merkte, wie er die Luft anhielt, als sie mit ihm sprach. Dann schnaufte er heftig aus. Sein Kopf zuckte irgendwie seltsam.
Der Mann war völlig verwirrt.
Hatte er sie überhaupt verstanden? Klar. Das verstanden Männer immer.
Würde er sie zu sich nach Hause mitnehmen? Neulich hatte einer sie auf einen Kaffee einladen wollen. Als ob sie Lust hatte, mit so einem alten Sack von ihren Kommilitonen gesehen zu werden.
Sie hatte Pfefferspray dabei und ein recht ordentliches Taschenmesser. Das wollte sie allerdings nur ungern schmutzig machen. Naja, ihr würde schon etwas einfallen.
Bald, bald, gibt es in dieser schönen Stadt einen Perversen weniger, dachte Lisa und gestattete sich ein leichtes Lächeln. Sie hatte gelesen, man sollte immer wieder mal lächeln, das würde sich positiv auf die Stimmung auswirken, außerdem wirke man dadurch attraktiver.
»Ich kann arbeiten.« Lisa rang sich ein Lächeln ab, das leicht und natürlich wirken sollte, ohne verkrampft oder gar manisch auszusehen.
»Nein, nein.« Horst blickte zu ihr, scheinbar, dabei sah er nur sich selbst, suhlte sich selbstzufrieden in seiner ach so verständnisvollen Art.
»Es macht mir nichts aus. Vielleicht«, fügte sie hinzu, »vielleicht hilft mir die Arbeit, mein Erlebnis zu vergessen.«
Die Zeitungen waren voll davon gewesen: Es war noch keine zwei Wochen her, da war Lisa beim Reinigen einer Wohnung, in der eine junge Frau gestorben war, von einem Mann angegriffen worden.
Ihr Chef schwankte einen Moment. Das war ein ziemlich cleveres Argument gewesen, wie konnte er sich jetzt noch als barmherziger Samariter aufspielen?
»Lisa.« Er machte eine Pause. Seine Stimme triefte vor Mitgefühl. Seit wann duzte er sie eigentlich? Kaum passiert einem so ein Scheiß, glaubt plötzlich alle Welt, sie müssten sich als deine Freunde aufspielen.
»Mach dir um deinen Job keine Sorgen, du kannst jederzeit wieder bei mir anfangen, das verspreche ich dir. Wenn du möchtest. Aber der Herr von der Polizei hat auch gemeint, dass Tatortreinigung erst mal nicht ganz das Richtige sein dürfte, nachdem dich dieses Schwein fast …« Er verstummte, die Lippen zusammengepresst.
Fast – was? Vergewaltigt hätte? Umgebracht hätte? Waren das wirklich so schwierige Wörter?
Horst schüttelte den Kopf und sah nach unten. Das Thema schien ihn mitzunehmen. Tatsächlich versuchte er natürlich nur, sich durch demonstrative Entrüstung und gespieltes Unverständnis vom »Täter« abzugrenzen. Klarer Fall.
»Und wenn du nicht mehr weitermachen möchtest, hat dafür sicher auch jedermann Verständnis.«
Fuck , sie hatte verloren. Da war nichts mehr zu machen. Wenn sie weiter insistierte, machte sie sich nur verdächtig. Sie nickte langsam. Sie wusste, dass der klare Blick aus ihren blauen Augen seine Wirkung nicht verfehlen würde.
»Ich habe dich doch gern …«, sagte er mit väterlichem Tonfall.
Ich weiß genau, was du an mir gern hast, kleiner Mann, dachte sie. Als wollte sie den Schmerz darin fühlen, strich sie sich mit der Hand über die Brust und atmete tief ein. Damit sein Blick ihrer Hand ohne schlechtes Gewissen folgen konnte, schloss sie die Augen.
Als sie sie öffnete, leckte er sich mit der Zunge über die Lippen.
»Was passiert ist, ist schrecklich. Warum fährst du nicht ein paar Tage mit deinem Freund weg?«
Mit Marc? Ohne seinen Computer hält der es doch keine 5 Minuten aus. Nur, wo man bei einer Frau die Knöpfe drücken muss, das wird er wohl nie checken.
»Mit Marc – ich weiß nicht …« Obwohl Horst auch im Sitzen viel kleiner war als sie, schaffte Lisa es, scheu zu ihm aufzusehen. »Ich habe ja auch Uni. Und vielleicht ist es das Beste, wenn ich ganz normal weitermache …«
Ihr Chef nickte väterlich. Wahrscheinlich freute es ihn, dass es mit ihrem Freund nicht so toll lief. Vielleicht rechnete er sich Chancen aus, dass sie sich mal bei ihm ausweinte.
»Du hast wahrscheinlich recht. Dank dran, dass ich immer ein offenes Ohr habe, wenn du etwas brauchst.«
Klarer Fall, er würde dann gerne Marcs Pflichten übernehmen.
»Danke«, hauchte sie. »Das bedeutet mir viel.«
Jetzt stellt er sich bestimmt vor, wie ich als Jungfrau in Nöten des Nachts an seine Tür klopfe und er mich retten kann. Mich in seine starken Arme nimmt und mir dabei ganz unauffällig die Brust streichelt. Männer.
Manchmal wünschte Lisa, sie wäre lesbisch, aber sie war so hetero, wie man nur sein konnte. Sie hatte es das mit dem Lesbisch-Sein versucht, musste aber feststellen, dass sie nicht einmal bisexuell war. Den Sex mit einer Frau fand sie einfach nur krampfig, außerdem hatten die meisten lesbischen Frauen wenig an sich, das sie attraktiv fand.
So musste sie wohl oder übel weiter mit Männern vorliebnehmen, so schlicht und trottelig die auch waren.
»Dann mach’s gut, Lisa.« Aufmunternd nickte Horst ihr zu.
Sollte sie ihn zum Abschied umarmen? Sie entschied sich dagegen. Das würde jetzt auch nichts bringen. Außerdem sollte sie sparsam umgehen mit ihrem Pulver.
»Danke … ich melde mich in zwei Wochen wieder.«
Sie wandte sich ab, bevor er widersprechen und ihr großzügig eine noch längere Auszeit schenken konnte.
Wenn nur in den nächsten zwei Wochen nichts passierte … das wäre zu ärgerlich.
Es platschte nicht einmal richtig, als er ins Wasser fiel. Stattdessen ertönte nur ein einigermaßen sanftes plumps . Eher ein Klogeräusch, nicht lauter, wie ein Stein, der ins Wasser fällt.
Wieder ein Vergewaltiger weniger. Fast zu schön, um wahr zu sein. Lisa betrachtete die rote Indiomütze, die wild und dramatisch auf den braunen Wellen schaukelte. Letzter Zeuge einer Tragödie. War’s das? Klasse.
Da tauchte er wieder auf. Prustend und wild mit den Armen schlagend.
Nee, oder? Fuck, Fuck, Fuck! Das war zu schön, um wahr zu sein! Konnte man hier etwa stehen? Sie war sich fast sicher gewesen, dass der Fluss unter der Brücke tief genug war.
Lisa biss die Zähne zusammen. Gut, dass sie vorbereitet war. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann war es, dass man immer auf alles gefasst sein musste.
Der Alte stand nicht, er schwamm . Immerhin! Er ruderte im Wasser – mitsamt seiner grünen Cordhose, den Stiefeln und all seinen Jacken. Und der dreckigen Unterwäsche, die man zwar nicht sah, aber zehn Meter gegen den Wind roch.
Er grunzte etwas. Naja, er war besoffen, das wusste sie ja. Und es war sicher auch ziemlich anstrengend, in dem eiskalten Wasser zu schwimmen. Würde er sich irgendwo hochziehen können? Unwahrscheinlich. Vermutlich würde er sang- und klanglos untergehen.
Blubb, blubb, weg war er. Woher war das? Mutter hatte das manchmal gesagt. Das musste irgend so ein Witz sein.
Muttersprüche hin oder her, sie durfte kein Risiko eingehen. Seufzend trat sie einen Schritt auf das Ufer zu und ging in die Hocke.
Der Fluss strahlte eine feuchte Kälte ab, die sie selbst durch ihre Kleidung hindurch noch spürte. Als ob »Flussufer« etwas Unscharfes wäre, ein unmerklicher Übergang vom Land zum Wasser.
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