Flötotto war mit der künstlerischen Tiefe des Dargebotenen offenbar überhaupt nicht einverstanden. Er strich sich mit einer nervösen Geste die verbliebenen Haare glatt und sammelte sich. »Okay«, stöhnte er, »okay, ich hätte auf meine Frau hören und lieber die Hauswirtschafts-AG übernehmen sollen. Da steht höchstens mal ein Herd in Flammen, oder eine Klasse fällt aus wegen Lebensmittelvergiftung durch Gammeldöner. Aber, nun gut, ich wollte es ja nicht anders. Das Leid gehört zum Leben eines Kulturschaffenden einfach dazu.«
Heinrich und die anderen schauten sich achselzuckend an, während Flötotto zur Entspannung ein paar Atemübungen machte. »Nun gut«, sagte er dann. »Kommen wir zur Einzelkritik. Patrick: sehr gute Performance als Lord Voldemort in der Angriffsszene. Dramatik, Gestik, Ausdruck – alles super. Allerdings solltest du vielleicht darauf achten, dich etwas lordmäßiger auszudrücken, falls du verstehst, was ich meine.«
»Ich finde, ich sollte Voll-der-Lord spielen«, rief einer der betttuchbewehrten Statisten dazwischen. »Ich tu das viel besser draufhaben, mit dem lordisch reden.«
»Ja, das hört man, Marcel. Kein ›tun‹ beim reinen Infinitiv! Und es heißt Voldemort und nicht Voll-der-Lord.« Flötotto wandte sich dem Jungen mit der roten Perücke zu, der sich immer noch vereinzelte Lachtränen aus den Augen wischte. »Timo, bis zu deinem Lachanfall war das in Ordnung. Viel geistreichen Text bietet die Rolle des ›Ron‹ ja eh nicht. Und du musst aufpassen, dass dir die Perücke nicht zu weit in die Augen rutscht.«
Timo tat zerknirscht. Er knurrte etwas von ›Scheiß Pumucklperücke‹ und kickte den roten Mopp von der Bühne. Das Mädchen mit der Löwenmähnenperücke nieste derweil laut und wühlte in den Untiefen seiner Umhangtaschen vergeblich nach einem Taschentuch. Ihre Nase war ziemlich gerötet.
»Lisa, ich hatte zwar gesagt, deine Rolle lässt Raum für künstlerische Entfaltung«, sagte Flötotto zu ihr, »aber ich wäre dir doch dankbar, wenn du ohne die dauernde Nieserei auskommen könntest, es sei denn, du möchtest damit etwas Kreatives herüberbringen, das mir bisher entgangen ist.« Das Mädchen nieste erneut und schaute Flötotto vorwurfsvoll an. Dann feuerte sie ihre Löwenmähnenperücke der roten von Timo hinterher, nieste noch zweimal kräftig und forderte lauthals einen Allergietest.
Flötotto reichte ihr ein Papiertaschentuch und nahm sich dann Heinrich vor. »Tja, nun zu dir, Heinrich ... ich weiß, wir interpretieren den ›Harry Potter‹ in unserer Aufführung ziemlich frei, und es ist völlig in Ordnung, dass du improvisierst, wenn du deinen Text vergessen hast, aber für linke Taschenspielertricks lässt deine Rolle wenig Raum. Du verkörperst den berühmten Jungen mit dem Blitz auf der Stirn, da muss dir schon etwas Besseres einfallen, als dem Dunklen Lord den Zauberstab zu klauen! Emotion, Ausdruck, Drama, das ist es, was ich von dir erwarte! Es kommt gerade zum entscheidenden Kampf zwischen dir und dem Dunklen Lord. Er steht kurz davor, den Todesfluch auszusprechen. Die Narbe auf deiner Stirn bringt dich vor Schmerz fast um den Verstand. Das muss man deinem Gesicht auch ansehen! Wir haben dich für die Hauptrolle ausgesucht, weil das mit deinem Namen so schön passt, aber es gehört schon ein wenig mehr dazu, um der Junge mit dem Blitz auf der Stirn zu sein.«
Flötotto sah Heinrich nachdenklich an, als zweifle er, das Notwendige noch irgendwann aus ihm herausholen zu können, und als würde er gleich zu ihm sagen ›Ich habe heute leider kein Foto für dich‹.
»Vielleicht sollten wir in Erwägung ziehen, dich für eine andere Rolle zu besetzen«, sagte er stattdessen. »Die des ›Ron‹ zum Beispiel. Du könntest mit Timo die Rollen tauschen, was hältst du davon?«
Heinrich tauschte einen Blick mit Timo, der feixend auf den Pumucklmopp deutete, der neben der zottigen Hermineperücke in der Ecke lag. Heinrich sagte nichts, aber der Vorschlag behagte ihm nicht.
»Tut mir leid, die Sache mit deinem Zauberstab«, sagte Heinrich. Er stand im Waschraum der Sporthalle vor dem Spiegel und versuchte, sich den in mühevoller Handarbeit aufgeschminkten Blitz von der Stirn zu rubbeln.
Ein Waschbecken weiter stand Patrick Lennert, der Darsteller des Dunklen Lords, und wusch sich unter verschwenderischem Wassereinsatz die bleiche Theaterschminke herunter. Der kleine Streit auf der Bühne war längst vergessen.
»Schwamm drüber«, gurgelte er. »Diese Küchenpapierrollen bringen 's sowieso nicht. Ich glaube, ich versuch's bei der nächsten Probe mal mit einem Zeichenpinsel oder, noch besser, mit einem Hammerstiel, der knickt wenigstens nicht gleich um, wenn man ihn einem über die Rübe zieht.«
Timo Koll betrat lachend den Waschraum. »› Du hast da einen Riss im Zauberstab! ‹«, wieherte er und patschte Heinrich im Überschwang auf den Rücken. »Das war echt geil, Mann. Ich dachte, Flötotto setzt gleich das Herz aus.«
»Flötotto ist ein Idiot.«
»Flötotto ist schon in Ordnung. Er ist nur etwas kunstversessen.«
»Wenn er das, was er da mit uns zusammenschauspielert, für Kunst hält, kann er nur ein Idiot sein.«
»Flötotto kann nichts dafür, dass er keine besseren Darsteller für seine Projekte findet«, gab Heinrich zu bedenken.
»Okay, einigen wir uns darauf, dass er eine Kulturmeise hat.«
Timo trat an ein freies Waschbecken, quetschte sich einen Klecks Haargel aus einer dunkelbauen Tube und begann, seine perückengeschädigte Frisur wieder auf Vordermann zu bringen. »Schade, dass du die Hauptrolle los bist, Heinrich. Ich finde, du hast es irgendwie immer geschafft, ihr so etwas Frisches, Unverbrauchtes abzugewinnen.« Timo traf Flötottos gelehrigen Tonfall exakt. Patrick und einige der übrigen Anwesenden lachten schallend.
Schade? Diese Theater-AG war eine selten dämliche Idee gewesen, dachte Heinrich im Stillen. Und dann auch noch ausgerechnet die Hauptrolle! Ehrlicherweise musste er sich eingestehen, dass Flötotto völlig Recht hatte. Es war ihm schon immer schwergefallen, sich in andere Rollen hineinzufinden, sich glaubhaft zu verstellen oder jemanden zu verkörpern, der er einfach nicht war. Von der ungeliebten Aufmerksamkeit, die man zwangsläufig erhielt, wenn man eine Hauptrolle spielte, mal ganz abgesehen. Und wie hatte Flötotto gesagt? Es gehört etwas mehr dazu, der Junge mit dem Blitz auf der Stirn zu sein.
»Tja, vielleicht bin ich mit einer anderen Rolle wirklich besser dran«, sagte er aus diesem Gedanken heraus und verstärkte die Rubbelei auf seiner Stirn, »aber die mit dieser bescheuerten Pumucklperücke muss es nicht unbedingt sein. Und seien wir mal ehrlich: Ron ist eine Lusche.«
»Immerhin kriegt er im Buch am Ende das Mädchen,« gab Patrick zu Bedenken und kratzte sich einen Schminkerest vom Haaransatz. »Welche Rolle wäre dir denn lieber?«,
»Ich weiß nicht, vielleicht einer der Geister. Mit dem Betttuch über dem Kopf fällt wenigstens niemandem auf, wenn du kein freundliches Gesicht machst.«
»Abgesehen von der Perücke ist die Ron-Rolle gar nicht schlecht«, meinte Timo. »Man hat dadurch leichter mal Gelegenheit, in Lisas Nähe zu kommen.«
Heinrich grinste etwas gezwungen. Lisa, die Hermine-Darstellerin, war eines der hübschesten Mädchen in der Theatergruppe. Für Heinrich war jedoch genau das ein weiterer Grund, sich insgeheim eine Nebenrolle zu wünschen. Lisa irritierte ihn irgendwie. Früher war es einfacher gewesen, da hatte er Mädchen einfach nur doof gefunden, doch mittlerweile bekam dieses einfache Weltbild deutliche Risse, er begann es mit anderen Augen zu sehen und manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, sein Leben könne allmählich ein wenig mehr Glamour vertragen. Und doch oder gerade deswegen machten Mädchen wie Lisa ihn unsicher und nervös. Angesprochen auf dieses Thema pflegte sein Vater stets recht unpräzise zu werden und wenig hilfreiche Sätze abzusondern, wie ›das kriegst du schon noch früh genug raus‹ oder ›damit hast du noch ein wenig Zeit‹.
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