»Ich weiß nicht, Ambos ... Er war damals noch ein Baby. Kein Mensch weiß, wie er die Kiste überhaupt gedeichselt hat. Und erinnern Sie sich daran, wie erpicht wir damals alle darauf waren, den nervigen Bengel los zu werden und ihn bei seinen Verwandten abladen zu können.«
»Ohne das Feuer man den Drachen nicht bekommt«, philosophierte Jota unter dem Tisch.
»Was für eine doofe Metapher ist das denn schon wieder?«, schnappte McGummiball gereizt.
»Wir brauchen ihn, Conserva! Denken Sie an die Prophezeiung! Wir müssen darauf vertrauen, dass er es schafft, wenn wir ihm all unseren Schutz und unsere Unterstützung zuteilwerden lassen.«
Endlich gab McGummiball ihren Widerstand auf. »Jaja, die Prophezeiung«, seufzte sie. »Na schön, versuchen wir es: Wir holen den Jungen mit dem Blitz.«
Auch von den anderen Personen am Tisch kam zustimmendes Murmeln oder Kopfnicken.
Schwurbelbart rieb sich geschäftsmäßig die Hände. »Fein. Dann legen wir mal los. Am Besten wäre es wohl, wenn wir ihn als gewöhnlichen Schüler aufnähmen, so bliebe sein Inkognito gewahrt.«
»Hm. Das Schuljahr beginnt bereits nächsten Montag. Das sind nur noch drei Tage. Wie sollen wir es bis dahin bewerkstelligen, ihn aufzutreiben, auszurüsten und herzubringen?«
»Ha, alles kein Problem«, frohlockte Schwurbelbart. »Lasst mich euch kurz erzählen, wie ich mir die Sache gedacht habe ...«
Heinrich Töpfer war kein Junge, der den großen Auftritt liebte. Er stand ungern im Mittelpunkt, schwamm am liebsten in der Gruppe mit und überließ es anderen, sich in den Vordergrund zu spielen. Er war ruhig und bescheiden, und die meisten seiner Mitschüler mochten ihn so wie er war. Bei den Lehrern eckte er selten an, tat für die Schule was notwendig war, um mit seinen Leistungen weder nach unten noch nach oben herauszustechen. Die Mädchen in seiner Klasse interessierten sich recht wenig für ihn, obwohl er, der beinahe zwölfjährige Sechstklässler, ein durchaus gut aussehender Junge war, mit strubbeligen schwarzen Haaren, klugen, blaugrünen Augen und ein paar gewitzten Wangengrübchen. Wenn er wollte bekam er sogar ein ziemlich draufgängerisches, schäbiges Grinsen hin, von dem er überzeugt war, es müsse die Mädels einfach umhauen. Das klappte aber nur heimlich zu Hause vor dem Spiegel. Wenn er im richtigen Leben die Mädels derart angrinste, dachten die immer, er habe eine partielle Gesichtslähmung oder so etwas. Also überließ er auch dieses Feld leichten bis mittelschweren Herzens den anderen Paschas auf dem Pavianfelsen und lebte sein beinahe beschaulich unaufgeregtes Gymnasiastenleben. Und da sich alles so wunderbar fest gefügt hatte und er alles in allem auch einigermaßen zufrieden damit war, bestand wenig Gefahr, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern würde. Oder etwa doch?
Die Situation, in der er sich gerade jetzt in diesem Augenblick befand, sah jedenfalls alles andere als nach Vermeidung von Rampenlicht aus. Im Gegenteil, er stand mittendrin! Bildlich gesprochen. Aber wäre ein Dutzend echter Filmscheinwerfer auf ihn gerichtet gewesen, sein Gesicht hätte nicht stärker glühen können als jetzt unter dem Druck der Blicke der Umstehenden. Aller Augen waren erwartungsvoll auf ihn allein gerichtet, und die pure Anspannung stand nicht nur in seinem, sondern auch in ihren Gesichtern.
Zum Beispiel in dem des sommersprossigen Jungen mit der leicht verrutschten, feuerroten Pumucklperücke zu seiner Rechten, der ihm gerade aufmunternd zunickte; oder in dem des Mädchens mit der Löwenmähne zu seiner Linken, das offenbar gerade etwas Anfeuerndes sagen wollte, dann aber nur zwei herzhafte Nieser herausbrachte, die ihr die Haare übers Gesicht fliegen ließen; und auch aus denen der übrigen kleinen Schar von Getreuen, die sich dezent im Hintergrund hielten und begierig die Hälse reckten.
Sie alle schauten auf Heinrich Töpfer! Denn er war der Junge mit dem Blitz auf der Stirn! Und sie warteten darauf, dass er es zu Ende brachte! – Und sie endlich in den wohlverdienten Feierabend gehen konnten.
Stein des Anstoßes war der finstere Typ, der geradewegs vor ihnen stand, boshaft lachend lässig den Zauberstab schwang und mit dramatischer Geste seinen viel zu großen Umhang bauschte.
»Harhar, mickriger Zauberlehrling!«, tönte drohend der halbwegs dunkle, jedoch deutlich minderjährige Lord. »Du siehst haargenauso aus wie dein Vater! Und zwar nachdem ich den Fußboden mit ihm aufgewischt habe! Und ich habe die Augen deiner Mutter. Nämlich in einem Glas Formaldehyd auf meinem Nachtkästchen!«
Höchste Zeit für Gegenmaßnahmen, dachte Heinrich fiebrig. Sie hatten doch alles Hunderte Male durchgesprochen! Wie ging das noch? Der taktische Rückzug war nicht vorgesehen und hätte ihn auch etwas blass aussehen lassen. Außerdem hatte er sich mehr oder weniger freiwillig für diese Mission entschieden. Reichlich spät also, es sich jetzt noch anders zu überlegen. Nein, hier und jetzt musste es entschieden werden.
»Stirb, Wicht!«, rief der Lord soeben drohend aus und stakste mit ungelenken Schritten und angriffsbereit erhobenem Zauberstab auf Heinrich zu. »Har har, ich werde auch alle frikassieren und die Reste an meinen Hausdrachen verfüttern.«
Jetzt wurde es aber echt eng! Er musste diesem Kerl, der höhnisch lachend näher rückte, den Arm hoch erhoben, bereit, den Todesfluch zu sprechen, irgendetwas entgegensetzen! Doch ihm, dem minderjährigen Zauberlehrling mit der Schar der Schutzbefohlenen um sich herum, wollte partout nichts einfallen. Außer ... vielleicht einem Griff in die Trickkiste!
Heinrich setzt alles auf eine Karte: »Mensch, pass auf!«, rief er dem Dunklen Lord entgegen. »Du hast da einen fetten Riss im Zauberstab! Der platzt dir ja gleich! Hier, probier lieber mal meinen.« Er reichte dem Finsterling seinen Zauberstab.
Der Dunkle Lord stutzte. Sein mit dem Zauberstab niedersausender Arm hielt mitten in der Bewegung inne – dann griff er wie mechanisch nach Heinrichs Zauberstab und streckte ihm seinen eigenen entgegen, da ihm ein Austausch wohl fair vorkam. Doch mit einer raschen Handbewegung hatte Heinrich den Zauberstab geschnappt und reckte nun beide siegreich in die Höhe. »Ha, reingefallen«, rief er triumphierend, zerpflückte den Pappzauberstab des Lords in kleine Stücke und warf sie ihm wie Konfetti um die Ohren. »Na, was sagst du jetzt?«
Der Lord sah sich überrumpelt. »Mein Zewa-Zauberstab«, stotterte er entsetzt.
»Stopp, aus!«, rief eine ferne Stimme, ging aber unter im schallenden Gelächter, das sich in der Gruppe der Getreuen um Heinrich herum und in einer Anzahl in dunkle Betttücher gehüllter Unholde, die bisher stumm abseitsgestanden hatten, erhoben hatte. Der Dunkle Lord jedoch war unter seiner bleichgrünen Schminke zornesrot angelaufen, was ihm eine sehr ungesunde Gesichtsfarbe verlieh. Er stieg von seinen Dosenstelzen herunter und kickte sie erbost in die Ecke. Erst ein zweiter, diesmal megaphonverstärkter Ruf, hielt ihn davon ab, sich im nächsten Augenblick auf Heinrich zu stürzen.
»Stopp! Aus! Aus! Aus! Schluss damit!«, dröhnte der Ruf über das Tohuwabohu hinweg.
Allmählich verebbte das lautstarke Gewieher. Verwirrt wendeten die Schüler die Köpfe und hielten Ausschau nach dem energischen, aber sehr verzweifelt klingenden Rufer. Es war Herr Flötotto, der Leiter ihrer Theater-AG, der am Rand der Bühne stand und drauf und dran war, sich büschelweise Haare aus dem ohnehin lichten Haarkranz zu raufen.
Was hatte der nur? Gut, es war die erste Probe nach den Sommerferien und sie waren alle noch etwas eingerostet und wenig textsicher, aber warum unterbrach er ihre Aufführung gerade jetzt, wo sie so schön in Fahrt waren? Murrend ließen die Kinder die Pappzauberstäbe sinken, zogen sich die Betttücher über die Ohren und schauten ihren Lehrer fragend an.
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