Auch hier machte sich die geistige Verkümmerung bemerkbar. Genau wie an ihrem Verhalten. Alle Handlungen waren von Gleichförmigkeit, Intoleranz und Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Niemand setzte sich für andere ein. Keiner zeigte Mitgefühl, wenn jemand litt, niemand beweinte den Tod eines Nahestehenden, niemand kümmerte sich um Bedürftige. Nur bei den alljährlichen Versammlungen und Festen, welche in den unterirdischen Sälen abgehalten wurden, herrschte ein schwaches Gemeingefühl, eine Vorstufe fürsorglichen Denkens. Die größte Versammlung fand in der Hauptstadt Auar statt. Dort besprach man wichtige Vorhaben, Ausgaben und notwendige Neuerungen. Auch feierte man. Jedoch waren diese Feiern nicht mit den Festen der realen Welt vergleichbar. So wie in Afghanistan, wo Veranstaltungen zwei bis zehn Tage andauern können. Wie das Eid al-Fitr oder das Eid al-Adha, wo mit Handtrommeln, Lauten und Flöten wilde, launige Melodien und Lieder gespielt werden und wo ausgelassen getanzt, gelacht und gesungen wird. Die Bewohner im lila Land standen still und unbewegt im Saal, wie versteinert. Sie sprachen kaum und hörten auf die dumpfen, gleichförmigen Melodien, welche einige Musiker mit ihren langen, gedrehten Ziegenhorninstrumenten spielten.
Regiert wurde das lila Land von einem Mann namens Unleud. Er lenkte die Geschicke des Landes und hatte bei den Versammlungen stets das letzte Wort. Schon viele Jahre war dies so, doch in einem Jahr geschah etwas Ungewöhnliches. Drei junge Männer aus der bunten Welt hatten sich in das Land verirrt. Als sie den lila Himmel und die lila Sonne erblickten, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen und ihre staunenden Münder wollten sich nicht mehr verschließen.
„Unglaublich!“
„Wo sind wir? Ist das ein lila Land?“
„Wunderbar ist das!“, schwärmten sie.
Magisch angezogen von der lila Farbe und angespornt von ihrer eigenen Neugier liefen sie immer tiefer in das Land hinein. Sie bestaunten die schwankenden, lila Gärten und Blumen, die gepflasterten, lila Straßen und Häuser, bis sie vor dem Festsaal in Auar standen. Ohne lange zu zögern, öffneten sie die eiserne Klapptür und stiegen die Treppe hinab. Alle Augenpaare waren sofort auf die drei jungen Männer gerichtet. Die Musik verstummte und Unleud ging verwundert zu ihnen hinüber.
„Was ist mit euch geschehen?“, fragte er und schritt noch näher an die Männer heran, ohne ein Auge von ihnen zu lassen.
„Mit uns ist nichts geschehen“, antwortete der jüngste und mutigste der Männer und sah gebannt in die Augen Unleuds, der ebenfalls mit einer leuchtenden, purpurvioletten Iris aufwarten konnte.
„Nichts geschehen? Natürlich ist etwas mit euch geschehen!“, erwiderte Unleud aufgebracht, „ihr müsst an einer Krankheit leiden oder wie sonst ist euer sonderbares Aussehen zu erklären?“
„Nein, ihr irrt! Wir kommen von weit her. In unserer Welt gibt es viele Farben. Wir sind nicht krank“, antwortete ein anderer, der lang und schlaksig war.
„Farben? Was sind Farben?“, fragte Unleud ungläubig.
„Ja. Farben sind ... Es gibt eben Rot, es gibt Grün und Weiß oder auch Lila. Der Himmel ist blau, die Sonne gelb, die Wiesen grün, das Holz braun und die Dächer rot.“
„Blau, Rot, Grün, Lila?“, fragte Unleud verwundert.
„Ja. Seht, unsere Haut ist weiß, unsere Münder sind rot und unsere Augen sind blau oder grün“, erwiderte der Schlacks.Nun traten die anderen Gäste im Saal ebenfalls dichter an die drei Eindringlinge heran. Misstrauisch betrachten sie sie und tuschelten. Den drei Männern stockte der Atem und sie stellten sich noch dichter aneinander.
„Weiße Haut, rote Münder also ...“, sagte Unleud mit nun zorniger Stimme.
„Ja, wir ...“,
„Schweigt!“, schrie Unleud die Männer an.
„Ihr lügt! Ihr seid Betrüger und Lügner und ihr werdet ...“, sagte er und seine purpurvioletten Augen blitzten und leuchteten wie Lichter auf.
„Greift sie!“, tönte es kurz darauf aus der Menge und ein tödlicher Ring zog sich immer dichter um die drei zitternden, bleichen Männer.
„Nein, nein“, schrie der Jüngste und streckte die Arme zur Abwehr nach vorn. Aber es nutze nichts. Und Unleud sagte, es waren die letzten Worte, die die Drei hörten:
„Ihr seid Lügner! Es gibt keine Farben, es gibt kein Weiß, kein Blau, kein Rot und kein Lila oder sonst irgendetwas. Nein! Ihr seid des Todes!“
Damit war das Urteil gesprochen. Der Mob stürzte sich auf die Männer. Man prügelte, trat, stach und würgte, bis kein Leben mehr in ihnen war. Danach lagen die drei mit gebrochenen Armen und Beinen, aufgerissenen Augen und zerschlagenen, blutenden Köpfen auf dem Teppich. Das rote Blut floss darauf breit. Dann wandte sich die Menge von den Toten ab und fuhr mit den Festivitäten fort. Die dumpfe Musik spielte wieder auf und Unleud nahm seinen alten Platz wieder ein. Das Leuchten und Blitzen in seinen purpurvioletten Augen legte sich und er lehnte sich zufrieden zurück. Die Lügner hatte er besiegt.
Aber der Mann aus Afghanistan träumte diesen Traum wieder und wieder und immer sah er sich dabei im Staub liegen. Woher jedoch diese ungewöhnliche Fähigkeit zur Selbstbeobachtung im Traum kommt, wenn sie überhaupt eine Fähigkeit ist und welche verborgene Bedeutung sie hat, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht ist sie ein Zeichen von geistiger Distanz zum Geträumten, die es der Seele ermöglicht, von den Gefühlen des Traums Abstand zu halten. Hierdurch könnte der Träumende bei sich bleiben, in seinem eigenen Ich und nicht der Spielball der oft unberechenbaren, düsteren und beklemmenden Stimmungen des Traumes werden. Wäre dem so, handelte es sich um eine geistige Überlegenheit. Und das würde bedeuten, dass der Träumende über dem Geträumten stünde und die Zügel selbst in den Händen behielte. Vielleicht sind aber auch Menschen, die sich beim Träumen betrachten können, in einem dunklen, unbewältigten Leiden gefangen. Vielleicht zeigt es eine krankhafte Abspaltung der Seele von dem, was den Traum verursacht und die Unfähigkeit dieser Seele, dem Geträumten zu folgen. Somit würde der Träumende vor der geträumten Realität flüchten, vor einer Realität, die zu schmerzvoll ist, als dass er sie ertragen könnte. Aber gut! Beide Theorien kommen aus dem spekulativen Denken und sind in keiner Weise belegt. Jeder, der darüber reflektiert, muss seine eigene Meinung finden.
Zu dem Mann aus dem Dorf ist zu sagen, dass er noch immer von dem lila Land träumt. Das Koma hält an. Wie lange? Niemand kann das sagen. Er sitzt noch immer in dem fensterlosen Saal und betrachtet die Toten. Denn er selbst ist Unleud.
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