Indira Jackson - Rayan - Im Licht der Rache

Neugierig eilte Alex zum Fenster seines Zimmers, in dem man ihn für die Dauer seines Aufenthaltes untergebracht hatte. Es war bereits der dritte Tag seit seiner Ankunft in Alessia. Nachdem er am Vormittag zusammen mit Mehmet den Markt in der Stadt besucht hatte, war er am Nachmittag im Pool schwimmen gewesen und danach nach oben gegangen, um sich zu duschen. Er trat gerade aus dem angrenzenden Badezimmer in seinen Schlafraum, als er draußen das Knirschen und Rumpeln im Kies der Auffahrt hörte. Er tippte darauf, dass es Pferdehufe waren, die dieses Geräusch verursachten. Zudem meinte er, das Schnauben von Pferden zu hören, doch war er sich dessen nicht ganz sicher.

Er musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass er von seiner Position am Fenster aus nichts erkennen konnte. Sein Zimmer lag zur Ostseite hinaus - also in Richtung des Pavillons und des Swimmingpools - somit konnte er von seinem Standort aus die Auffahrt nicht einsehen.

Schnell warf er sich frische Kleidung über - die wie üblich wie von Zauberhänden auf seinem Bett gelandet war, während er sich reinigte - und eilte den Flur entlang.

Vom Südfenster im ersten Stock konnte er auf den Vorplatz des Hauses sehen. Und gerade rechtzeitig: Mit aufgerissenen Augen sah er, dass dort wie vermutet eine Gruppe von Reitern war, sein Gehör hatte ihn also nicht getrogen. Er zählte neun Männer, die ihre Rösser vor dem Haus zum Stehen brachten. Aber was für einen bedrohlichen Anblick sie boten! Sie waren ausnahmslos von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet: von den Stiefeln, über die Hosen und Gewändern bis zu ihren Turbanen. Einige hatten zum Schutz vor dem Sand noch immer ihr Gesicht verhüllt. Die meisten trugen Gewehre auf dem Rücken. Manche hatten zusätzlich große Messer am Gürtel. Es war ein faszinierend fremdartiger Anblick für den Deutschen! Erst nach einer Weile bemerkte er, dass der Anführer des Trupps ein Schwert auf dem Rücken trug. Unwillkürlich musste Alex beim Anblick der Waffe an japanische Filme denken, die er früher einmal reihenweise angeschaut hatte. Dass dieser Mann der Befehlshaber dieser wilden Reiterschar war, erkannte Alex unschwer daran, dass der Mann der Einzige war, der eine blutrote Kordel trug, die im auffälligen Kontrast zum tiefschwarzen Stoff des Turbans stand.

Auf einmal erinnerte sich der Deutsche an eine Beschreibung, die er im Buch seiner Schwester gelesen hatte. In diesem Moment war ihm klar, wer der Mann sein musste: Sein Schwager Rayan war angekommen!

„Was?“, entfuhr es dem Professor angesichts von Mehmets Bemerkung, dass Megan an dem Termin beim Scheich teilnehmen solle. Er brauchte nicht erst in das triumphierende Gesicht seiner Tochter zu schauen, um zu merken, wie die Wut in ihm hochstieg. „Nix da. Keine Rede davon. Ich bin ihr Vater und ich sage, sie bleibt hier!“, schloss er. Sein Tonfall verriet, dass das Thema für ihn damit erledigt war.

Doch der Diener lächelte nachsichtig: „Mein Herr hatte mir schon gesagt, dass Sie vermutlich so reagieren würden. In diesem Falle soll ich ihnen ausrichten, dass der Termin dann nicht stattfinden wird. Ich werde heute Nachmittag um 16 Uhr kommen, um Sie alle drei abzuholen. Ohne Miss Megan werde ich aber alleine zurück fahren, tut mir leid. Das sind meine Anweisungen, die wie gesagt, sehr explizit waren.“

„Dieser gerissene Bastard!“, entfuhr es dem Professor feindselig, woraufhin der Diener aussah, als hätte man ihm eine Ohrfeige versetzt. Empörung machte sich auf seinem Gesicht breit. Was fiel diesem Engländer ein, seinen Herrn derart zu beleidigen? Der konnte froh sein, dass Herr Tahsin noch so jung war. Mit seiner Exzellenz, dem Herrn Rayan, hätte er das nicht gewagt. Bei diesem wäre er nicht der erste Mann, der für derlei Äußerungen noch im gleichen Moment seine Zunge verlöre!

Beleidigt sagte der Tarmane pikiert: „Bis heute Nachmittag!“, und wollte sich auf den Weg zu seinem Auto machen.

In diesem Moment platzte Horst heraus: „Hey und was ist mit mir? Sie sprachen von drei Personen inklusive Megan - ich gehöre aber auch zum Team!“

Der Diener zögerte, musterte den Fotografen, dann nickte er: „Ich bin mir sicher, einer mehr ist kein Problem - solange Miss Megan dabei ist. Bitte verraten Sie mir ihren werten Namen, damit ich meinen Herrn entsprechend informieren kann.“

„Horst Schreiber - aus Österreich! Ich bin der Fotograf des Teams und für die Katalogisierung zuständig.“

Daraufhin verneigte sich der Araber leicht. „Ich gebe es entsprechend weiter. Mein Name ist Mehmet.“ Hörbar stolz ergänzte er: „Ich habe in London studiert.“

Dann fuhr er davon und jeder der vier starrte ihm nach.

Mit einem zufriedenen Grinsen schaltete Kasib gegen Abend seinen Computer aus. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und tauchte das Meer in ein goldenes Licht. Der heutige Tag hätte für den Tarmanen nicht besser laufen können. Der Termin bei Taib Riad am Morgen war nur kurz gewesen. In aller Ruhe waren sie gemeinsam die Flugdaten der Buchung durchgegangen, die Alexander Hartmann von München aus getätigt hatte. Der wollte in knapp zwei Wochen von München aus via Dubai nach Alessia reisen. Dann war Kasib aus dem Raum geschickt worden, weil der Anwalt seinen Freund Rayan anrufen wollte, um mit ihm die weitere Vorgehensweise abzustimmen. Anfangs enttäuscht hatte sich Kasib seinen sonstigen Aufgaben gewidmet. Doch er hatte Taib unterschätzt. Schon eine Stunde später hatte sein Boss ihn angerufen und telefonisch ein Feedback gegeben.

„Der Bruder der Scheicha darf seine Reise antreten. Rayan will nicht, dass die Familie sich aufgebracht womöglich an Carina wendet und sie sich in ihrem Zustand – sie ist ja mittlerweile im siebten Monat schwanger – aufregen muss. Ich habe veranlasst, dass Alexander Hartmann am Flughafen abgeholt wird. Somit ist seine Sicherheit erst einmal gewährleistet. Dann sehen wir weiter. Ein wenig Zeit ist bis dahin ja noch. Je nachdem wie sich die Lage in Zarifa bis dahin entwickelt hat, wird der Scheich ihn sogar persönlich in Empfang nehmen. Wenn es ihm möglich ist, wird er sich vor Ort um alles Weitere selbst kümmern. Und falls nicht, fliege ich dorthin.“ In wenigen Worten informierte der Anwalt den Tarmanen über die aktuelle Lage in dessen Heimat. Die Situation schien sich zuzuspitzen, ein Kampf stand offenbar unmittelbar bevor. Einmal mehr bereute Kasib, nicht mehr mit von der Partie sein zu können. Er machte sich Sorgen um seine Stammesbrüder und auch um seinen Herrn. „Mach dir nicht zu viele Gedanken - Rayan kommt schon klar“, beruhigte Taib den ehemaligen Krieger.

Kasib war wie immer ein wenig verlegen, wenn Taib von seinem Herrn in dieser direkten Art sprach und ihn, sowie die Scheicha, schlichtweg beim Vornamen nannte. Aber er blendete diese Tatsache aus – viel zu sehr freute er sich über das Vertrauen, dass sein Boss ihm offenbar entgegenbrachte, weil er ihn in die Pläne einweihte.

Als der Anwalt ihm dann noch Grüße von seinem Herrn ausrichtete und erwähnte, dass dieser sich zufrieden über seinen Werdegang in Dubai geäußert hatte, fühlte Kasib sich dermaßen beschwingt, dass er die positive Energie genutzt hatte, um seine privaten Vorsätze für diesen Tag sofort in Angriff zu nehmen. Wieso sollte er bis zum Abend warten, wenn ihm das Glück heute offenbar hold war.

Claudia war zunächst sichtlich erstaunt gewesen, als er völlig unvermittelt an ihrem Empfangsdesk gestanden hatte, doch war sie merkbar erfreut über das Gespräch gewesen. Sie hatten einige Minuten lang geplaudert. Der Tarmane war insgeheim erleichtert, wie unkompliziert man mit der Engländerin reden konnte. Im letzten halben Jahr war sein Englisch immer besser geworden und Claudia sprach zudem ein ganz passables Arabisch, sodass die Sprachbarriere kein Problem war. Insofern war es Kasib völlig leicht über die Lippen gekommen, sie zu fragen, ob sie nicht irgendwann einmal mit ihm etwas trinken gehen würde.