Auf ein Zeichen des Friedens warten … . Schlagartig wurde mir klar, was Marcus gemeint hatte.
Eine Friedenstaube! Anders konnte es nicht sein. Ich sah mich suchend um, und da saß sie auf dem Asphalt und pickte nach unsichtbaren Krumen. Sie war schneeweiß und wunderschön.
Ich näherte mich vorsichtig, doch die Taube war zahm und flatterte nicht davon.
Vorsichtig griff ich mir das Tier. Die Flügel fühlten sich seidenglatt in meinen Fingern an. Sie war ganz ruhig, nur das Herz schlug hektisch gegen meinen Handballen.
„Alles gut“, redete ich auf sie ein, und untersuchte den Hals, wo normalerweise die Nachrichten in einem Röhrchen verstaut wurden. Unter den Federn an einem dünnen Stahlring hing eines, das ich recht einfach entfernen konnte. „Nun flieg wieder zurück. Wenn du schlau bist, suchst du den Weg in die Freiheit.“
Ich öffnete meine Finger und sah zu, wie die Taube in den dunklen Nachthimmel aufstieg. Fahrig öffnete ich das winzige Röhrchen und pulte den Zettel raus. Ich rollte ihn auseinander und starrte auf das Wort, das da geschrieben stand.
Ein einziges Wort.
PENG!
Ich hatte die blinde Panik noch nicht im Griff, als mein Smartphone klingelte. Mit gefühllosen Fingern fummelte ich es aus der Tasche und entriegelte das Display mit einem Wisch zur Seite. Schließlich hielt ich den Hörer ans Ohr und räusperte vergeblich gegen den Kloß in meinem Hals an.
„Ha ... hallo?“
Irgendwo in England , Herbst 2012
«Ich wollte doch nur an ihr riechen...»
"Sie sind den nicht gefolgt.“
„Wer? Wer ist welchen Anweisungen nicht gefolgt?“
„Schnauze!“
Alexa versuchte, auf die Füße zu kommen, doch er zog sie bereits am Oberarm in die Höhe. Sie blickte in sein wütendes Gesicht und fragte sich, ob sie wohl in der Lage wäre, noch mehr Angst zu empfinden. Nein, stellte sie fest. Selbst Angst war etwas, das sich bei übermäßigem Gebrauch abnutzte.
Er fletschte die Zähne in einer Grimasse, die kaum mehr menschlich zu nennen war. Seine Lippen waren kaum noch zu sehen. Seine Augen waren zusammengekniffen wie die eines Beutegreifers kurz vor dem Zuschlagen. Alexas Arm schmerzte an der Stelle, an der seine Hand wie ein Schraubstock zudrückte. Sie sah nur noch, wie seine rechte Faust auf ihr Gesicht zusteuerte. Gleich darauf explodierte ihr Kopf. Das Knirschen und Knacken vermischte sich mit dem Geräusch eines intensiven Brummens, das sie nicht lokalisieren konnte. Luft wurde aus ihrem Brustkorb gepresst, und ihre Beine gaben nach. Jemand stöhnte, und erst nach Sekunden begriff sie, dass sie selbst es war.
Vor ihren Augen zerplatzten Blitze, der Schmerz zog von der Nase über die Stirn in die Schläfen und wieder zurück, bis ihr Gesicht ein einziger Feuerball war. Gleichzeitig spürte sie, wie die Tränen aus ihren Augen schossen, ihre Wangen bis über ihre Lippen liefen. Der Geschmack von Blut und Salz benetzte ihre Zunge. Durch einen Nebel von Schmerz spürte sie, wie sie wieder am Arm nach oben gezogen wurde.
„Das tat gut. Du kommst jetzt mit raus, Schätzchen. Da haben wir mehr Platz.“ Durch den Tränenschleier konnte sie ihn nur verschwommen sehen, automatisch stolperte sie hinter ihm her, wurde halb mitgeschleift. Ihr Schädel dröhnte und der stechende Schmerz fokussierte sich in der Nasengegend. Kühle Luft traf auf ihr Gesicht, als er die Tür öffnete. Jede Bewegung schickte neue Schmerzwellen durch ihren Kopf. Dann trat sie ins Leere, stürzte nach vorne und hing für einige Augenblicke hilflos im Griff ihres Peinigers.
„Vorsicht, Stufe“, sagte er und lachte höhnisch.
Sie spürte, wie Regen auf sie prasselte, wischte sich mit der freien Hand über den Mund und roch ihr eigenes, metallisches Blut, das unaufhörlich aus ihrer Nase lief. Das war ihr persönlicher Albtraum. Dass es noch grauenhafter kommen konnte, begriff sie erst, als zwei riesige Kerle wie Schatten neben ihr auftauchten.
„Utz! Roderick! Macht Platz. Fasst sie nicht an und denkt nicht mal darüber nach.“
Worüber? Alexa blinzelte, klärte ihren Blick und starrte in die leuchtenden, grünen Augen des größeren Kerls von beiden.
Seine Lippen teilten sich, Speichel lief seine Mundwinkel hinab. Die Narbe, die quer durch sein Gesicht lief, verzerrte den Mund zu einem grausigen Grinsen.
Er gab ein tiefes Knurren von sich, als er noch dichter kam und an ihr schnupperte, wie ein Tier, das seine Beute erlegen wollte.
„Sie ist sowieso nicht mehr hübsch“, sagte der Narbige mit einer Stimme, die aus den Tiefen einer gequälten Raucherlunge zu kommen schien.
„Lass uns nur mal reinbeißen“, schlug der Kleinere mit lauernder Freundlichkeit vor. „Du hast sie sowieso schon fast kaputt gemacht. Da können wir ruhig auch mal drüber.“
Das mussten ebensolche Kreaturen sein wie Anna. In Alexas Magen entstand ein fester Klumpen. Ehe sie sich versah, wurde ihr Arm endlich freigelassen, der Typ wirbelte herum und rammte dem Kleinen seine Faust ins Gesicht.
„Sie gehört mir, und ich mache mit ihr, was ich will, verstanden? Und du hast hier gar nichts zu melden!" Der Irre beugte sich über seinen Kumpel und starrte ihn an. Der Kleine winselte und wand sich wie ein Hund, der Schläge erwartete.
„Ich wollte doch nur an ihr riechen...“, jammerte er. „Ja, Marcus“, lenkte er schließlich ein. Es war kaum mehr als ein Flüstern, und endlich hatte der Irre einen Namen. Der Narbige beobachtete sie mit scharfem Blick, während Alexa mit verquollenen Augen die Gegend absuchte. Keine Chance. Sie würde ihnen nicht entkommen können. Zitternd blieb sie stehen, die Kälte kroch in ihre Glieder.
Längst war sie bis auf die Haut durchnässt. Mit dem Ärmel tupfte sie sich vorsichtig das Gemisch aus Rotz und Blut aus dem Gesicht. Erst jetzt konnte sie erkennen, dass sie in einem Bauwagen gefangen gehalten worden war. Er stand unter einigen hohen Nadelbäumen.
Der Boden unter Alexas Füßen war aufgeweicht und voller Pfützen, in denen sich das spärliche Licht vom Bauwagen brach. Rund um sich hörte sie nichts als das Rauschen des Regens in den Baumwipfeln. Diese Situation war so unwirklich. Wenn die Schmerzen nicht wären, könnte das hier glatt als Traum durchgehen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als Marcus aufstand und zu ihr kam.
„Deine Nase sieht schrecklich aus.“ Er leckte sich über die Lippen, entblößte dabei seine Zähne und starrte ihr ins Gesicht. Erneut packte er sie hart am Arm und schubste sie zu dem Narbigen. Strauchelnd kam sie in seinen Armen zum Stehen.
„Hast du ihnen Angst gemacht, Utz?“ Die hässliche Kreatur bleckte die Zähne, nickte eifrig.
„Oh ja! Ich habe sogar in den Wagen geschossen“, lachte er heiser. Marcus runzelte die Brauen, biss sich auf die Lippe und schloss die Augen für einen Moment. Als er sie wieder öffnete, packte er den Narbigen am Sweatshirt und zog ihn zu sich.
„Wenn du sie verletzt hast, bist du tot.“ Alexa glaubte ihm jedes Wort. „Nein, nein. Sie wurde nicht verletzt“, versicherte er hastig. Marcus schien zufriedengestellt. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und gab eine Nummer ein. Dann klemmte er das Handy zwischen sein rechtes Schulterblatt und Ohr und zog mit der freien Hand eine Pistole unter seiner Jacke hervor.
„Hallo, Schätzchen.“
An der Pistole zog er das Magazin nach hinten. „Was hatte ich dir gesagt?“ Er nahm den Hörer in die linke Hand und zielte mit der rechten auf Alexa. Kam näher. Bis er direkt vor ihr stand und den Lauf auf ihre Stirn drückte. Ihr Schädel explodierte ein weiteres Mal. Stöhnend sank sie in die Knie, doch der Narbige zerrte sie wieder nach oben. Marcus legte den Kopf zur Seite, fixierte mit seinen grünen Augen, in denen der Wahnsinn stand, ihre Nase.
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