Uff, geschafft. Ich bin jetzt Mitglied einer Arbeitnehmervertretung. Vorerst zumindest.
Am Sonntag gehen wir alle aus dem Lehrlingsheim, die nicht nach Hause gefahren sind, ins Kino. Im Saal ein läuft der neueste Actionfilm aus den USA, dort gehen die Jungs alle rein, aber für uns Mädels ist das wirklich nichts. Der Filmfreak ist da und fragt uns, ob wir es nicht einmal mit einem italienischen Film versuchen möchten, er ist zwar schon ziemlich alt, aber sehr gut und er spendiert den Eintritt, damit wir nicht um die Freikarte umfallen, die er im Supermarkt immer wieder verteilt.
Wenn das kein Angebot ist?
Die Hälfte der Mädels entschließen sich doch in den Actionfilm zu gehen, weil sie ein italienischer Film nicht interessiert, aber die Jasmin und die Tina gehen mit mir ins Kino zwei und man höre und staune auch Ali schließt sich mir an, weil er lieber mit uns Mädels abhängt, als sich einen Film anzusehen in dem die Fetzen fliegen und das Blut von der Leinwand fließt, Blut hat er schon genug gesehen im Leben, aber leider echtes und das reicht ihm jetzt, es wird noch genug Actionfilme geben, die er sich reinziehen kann.
Der Film im Kino zwei ist natürlich überhaupt nichts für ganz kleine Küchen.
Im Gegenteil. Der Filmfreak hält zwar eine Einführung, ohne die wir nur Bahnhof verstanden hätten, aber selbst mit der Einführung steigen wir bald aus der Handlung aus.
Aber in dem Film geht es sehr viel um die Arbeit in einer italienischen Fabrik, um die Gewerkschaft, um Arbeitskämpfe und Streiks, unglaublich was es alles gibt, und solchen Leuten, die so etwas organisieren soll ich mich anschließen?
Nach Filmende setzt sich der Filmfreak noch mal mit allen hin und spricht noch gut eine Stunde mit uns über den Film. Natürlich hat keiner von uns Lehrlingen auch nur einen Pieps gemacht, weil solche Filme natürlich nicht für die Kids aus einem Lehrlingsheim gemacht wurden, aber niemand im Kino sieht uns schief an. Im Gegenteil, irgendwie sind diese viel älteren Leute sehr zufrieden, dass wir kleinen Kälber hier sind und an der Diskussion zum Film teilnehmen.
Vielleicht gibt es doch noch Erwachsene, die solche Kids wie uns noch nicht ganz abgeschrieben haben?
Offensichtlich, denn die Leute übernehmen unsere Getränke und die guten Marmeladenbrote, die es hier statt dem Popcorn gibt.
Natürlich sind die Actionfans schon längst im Lehrlingspup zurück und saufen dort ordentlich im Limorausch ab, als wir Italienfilmgeschwängerten endlich auftauchen.
„Hey, wo seit ihr den abgeblieben?“
„Euer Film hat ganz schön lange gedauert, was?“
„Ihr habt euch wohl befingert?“
Allgemeines Gelächter. Die Sexmethode zieht immer, wenn was nicht stimmt. Das ist also auch hier so.
Aber wir lassen uns nicht entmutigen, wir ganz bestimmt nicht und ich erst recht nicht, auch wenn ich jetzt einfach mit den Wölfen heulen muss und mit ihnen unser Lied anstimme.
„Weil wir Lehrlinge sind, da kennt uns jedes Kind, wir reißen Bäume aus, wo keine sind!“
Wir Kids vom Lehrlingsheim sind keine Kinder von Traurigkeit. Prost!
Die Tage fliegen dahin, die Zeit vergeht wie im Flug, ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen wie das Leben vor der Lehre im Supermarkt gewesen ist. Aber das ist ungerecht, ich habe mich in der Kinder-WG wirklich wohlgefühlt, genau genommen ist es mir dort echt gut gegangen, zumindest besser als das was sich bei anderen Kindern das zu Hause nennt.
An mein echtes zu Hause kann ich mich gar nicht mehr wirklich erinnern, in Wirklichkeit war es kein echtes Nest für drei so kleine Gören wie wir gewesen sind, es war nur immer laut und oft hat einer von den beiden, die so etwas wie unsere Eltern gewesen sind laut geschrieen und dann hat der eine zugeschlagen und die andere hat geheult und dann hat es dem einen leid getan und die andere hat es ihm heimgezahlt, weil er zugeschlagen hat und so ging das den ganzen Tag und nicht selten auch die Nacht durch und was gutes zum Essen gab es nicht oft, dafür gab es sehr viel hartes Zeug zum Saufen, was natürlich nur der eine oder die andere ausgesoffen hat und dann war natürlich wieder nichts für uns Rotznasen da und weil hungrige Gören weinen ist wieder einer von den beiden ausgeflippt und dann ist das ganze Affentheater wieder von vorne losgegangen mit dem ewigen Geschrei und dem zuschlagen und dem weinen. Ich kann, ich will das alles einfach nicht mehr hören. Ich bin echt froh, dass ich ins Heim und dann in die Kinder-WG gekommen bin, da war ich zwar ein ‚Spinnenkind’ aber es gab wenigstens kein Geschrei mehr und kein Weinen und kein zuschlagen, das ist schon mal etwas und ab und zu, dann, wenn ich ganz brav gewesen bin hat mir auch mal die WG-Leiterin über die Haare gestrichen.
Gibt es meine Eltern überhaupt noch? Gibt es überhaupt noch etwas woran ich mich gerne an sie erinnere? Meine Mutter hat mir manchmal über die Haare gestreichelt. Das hat sie wenigstens gut gekonnt. Mein Vater, der hat mir manchmal die Schultern gedrückt und auf den Schoß gesetzt, aber das war nur sehr selten, bis dann die Polizei gekommen ist und die Beamten gesagt haben, dass unsere Eltern nicht mehr zurückkommen werden, wieso haben sie nicht gesagt, nur, dass später, viel später, wenn wir erwachsen sind, das wissen und auch verstehen werden.
Dann kamen auch schon die Sozialarbeiter und haben uns drei Gören vom Polizeirevier ins Kinderheim gebracht. Dort hat man uns getrennt. Die Maria, die alle nur Maja nannten und die auch viel lieber so gerufen werden wollte, die ist sofort in eine Kinder-WG gekommen, und weil sie viel älter ist, als der Andy und ich, hat sie auch bald zu lernen begonnen, angeblich ist sie jetzt in einem guten Friseursalon beschäftigt, ich hab sie nie mehr wieder gesehen, nicht einmal zu Weihnachten ist sie bei uns im Kinderheim vorbei gekommen.
Dann bin ich bald in die neue Mittelschule gekommen und in die Kinder-WG umgezogen und der Andy, der der jüngste von uns drei Spinnenkindern ist, hat alleine im Kinderheim zurückbleiben müssen, er hat sehr geheult und ich hab noch mehr geheult, weil ich nicht mehr bei meinem Andy sein konnte, aber die ganze Heulerei hat natürlich nichts genutzt und jetzt bin ich im Lehrlingsheim und es ist der erste August und ich habe auch tatsächlich mein erstes Gehalt bekommen.
Oh mein Gott, ich sehe auf meinen Lohnzettel, was alle im Supermarkt gleich machen, wenn sie dieses magische Blattpapier bekommen und der Ali und der Seppi sind mit mir in der Pause in die Bank gegangen, die auch im selben Gebäude wie der Supermarkt untergebracht ist und sie habe mir gezeigt, wie man mit der Kundenkarte den Kontoauszug ausdruckt und die Zahlen auf dem Bankbeleg mit denen am Lohnzettel vergleicht.
Alles klar? Bei mir schon.
Die Lehrlingsentschädigung ist ordnungsgemäß eingegangen, natürlich ist etwas für das Lehrlingsheim gleich abgebucht worden, aber es ist noch immer genug für mich da!
Halleluja! Noch nie in meinem Leben habe ich so viel Taschengeld nur für mich gehabt! Ich freu mich. Ich freu mich ja so! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, ich das kleine Spinnenmädchen, das dumme Spinnenkind hat endlich etwas Geld in der Tasche, das hätten mir viele in der neuen Mittelschule niemals zugetraut.
Aber ich habe was und ich habe es mir verdient!
Sehr zufrieden schlafe ich an diesem Abend ein und ich träume, ich träume eine langen, schönen Traum von vielen Freunden auf einer schönen Wiese und einem Mädchen und einem Jungen, die gemeinsam tanzen gehen.
Oh wie habe ich doch gut geschlafen. Lange habe ich noch an diesen schönen Traum gedacht.
„Du bist heute verträumt?“ sagt die Jugoslawin.
„Äh?“
„Normaler Weise bist du das nicht“, sagt die Jugoslawin.
„Tatsache?“
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