„Die 85 und die 86“, tönte es aus dem Lautsprecher. Sein Essen war fertig. Er holte es vom Tresen, kehrte zu seinem Tisch zurück und begann zu essen. Schnellimbissqualität zu Restaurantpreisen dachte er missmutig. Er aß die Hälfte und schob es dann weg. Der Mann am nächsten Tisch hämmerte hektisch auf die Tastatur seines Laptops. Die Kinder quengelten. Der Mann des Ehepaares hatte sich auf die Bank gelegt und schlief, seine Frau las. Michael machte es ihm nach, rollte seinen Mantel zusammen, legte sich auf die Bank und streckte die Beine aus. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.
Bogdan Romanov war wütend. Er stand mit seinem Leihwagen in der Autoschlange am Borkum Kai in Emden und wartete auf die Fähre. Was soll ich hier, dachte er, wenn der Kerl nicht in Frankfurt war, wo dann? Der verkriecht sich doch nicht auf einer Insel, da wäre er ja schön blöd. Er sah sich um. Die Schlange war kurz, nicht viele Leute fuhren zu dieser Jahreszeit nach Borkum. Bloß ich Idiot muss da hin, erregte er sich wieder. Gewohnheitsmäßig beobachtete er die Autos. Zwei LKW, ein Transporter einer Sanitärfirma, einige Kleinwagen mit Nummernschildern aus Leer und Aurich, ein großer Dunkelblauer BMW mit Düsseldorfer Kennzeichen, ein Motorrad.
Der Fahrer des BMW stieg gerade aus. Moment, ist das nicht…? Romanov war sofort hellwach. Natürlich, kein Zweifel, das war der Bruder! Er rutschte in seinen Sitz, denn der Mann ging nicht weit von seinem Auto entfernt zum Abfertigungsgebäude. Romanov wartete. Zehn Minuten später kam der Mann zurück und setzte sich in sein Auto. Kurz darauf begann die Verladung. Romanov fuhr vor dem BMW auf das Schiff, ihm wurde ein Platz ganz vorne zugewiesen. Im Rückspiegel sah er, dass der BMW in eine Nische dirigiert wurde. Er blieb sitzen, bis der Bruder ausgestiegen war, dann verließ er sein Auto und folgte ihm in einigem Abstand. Er sah, wie er einen Tisch im vorderen Abteil wählte, sich setzte, dann aber zum Restaurations-Tresen ging. Als der Bruder sich zur Kasse wandte, ging Romanov hinter ihm vorbei und betrat das Abteil. Er sah einen jungen Mann, der gerade eine Tasche aufmachte, eine Frau etwa Mitte dreißig mit zwei kleineren Kindern, sowie ein älteres Ehepaar an einem der hinteren Tische. Fieberhaft überlegte er. Dann ging er wie zufällig an der Frau mit den Kindern vorbei. „Ihr seid ja zwei Süße“, sagte er zu den Kindern. Die Frau hob überrascht den Kopf. Romanov wandte sich der älteren der beiden Mädchen zu. „Wie alt bist Du denn?“ fragte er sie.
„Ich gehe schon in die Schule“, antwortete das Mädchen stolz.
„Kannst Du auch schon schreiben?“ fragte Romanov
„`’türlich“, antwortete sie, „willst Du mal sehen?“ Romanov blickte zu der Frau und deutete auf einen Stuhl „Ist der Platz noch frei?“
Die Frau zögerte. Sie sah den groß gewachsenen Mann prüfend an. Er sah gut aus mit seinen wilden kurzen Haaren, seinem dunklen Teint und seinem sinnlichen Mund.
Sie deutete auf den Stuhl. „Bitte“, krächzte sie und räusperte sich.
Romanov setzte sich und wandte sich der anderen Tochter zu, der Kleineren von den Beiden.
„Und Du, kannst Du auch schon schreiben?“
„Ich kann schon rechnen“, krähte sie. „Eins und Eins ist zwei“. Ihre Augen triumphierten.
In dem Moment kam der Bruder wieder herein, ein Tablett in der Hand. Romanov beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sah, wie der Mann herüberblickte und wandte sich wieder den Kindern zu.
„Könnt ihr auch malen“, fragte er sie.
„Was soll ich denn malen?“ fragte die Kleinere, während die Mutter schon Buntstifte und Papier aus ihrer Tasche holte.
„Was Du am liebsten magst“, schlug Romanov vor.
„Dann male ich den Papa.“
„Mein Mann konnte nicht mitkommen, er hat zu viel zu tun“, erklärte die Frau.
Romanov sah, wie der Bruder zum Tresen ging und mit einem Teller wieder zurückkam.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie er aß, den Teller zur Seite schob, und sich nach einem Blick in die Runde auf die Bank legte.
In Borkum angekommen, musste Romanov zuerst vom Autodeck herunterfahren, da sein Wagen weiter vorn stand. Das ärgerte ihn, denn nun musste er irgendwo anhalten, um den Bruder vorbeizulassen. Er kannte sich auf der Insel nicht aus, also hielt er schließlich an einer Bushaltestelle an und wartete, bis der blaue BMW vorbeifuhr. Er ließ noch zwei weitere Autos durch, dann folgte er. Der BMW bog nach einigen Kilometern ab. „Reedestraße“, las Romanov, als er ebenfalls abbog. Die Straße wand sich zwischen hübschen, niedrigen Häusern durch und näherte sich einem viereckigen, alten Turm. Kurz vorher bog der BMW erneut ab. Knaakenpad, las Romanov, als er die Einmündung erreichte. Er sah, wie der BMW etwa hundert Meter weiter eine kleine Auffahrt vor einem geduckt aussehenden Haus hinauffuhr und hielt. Der Fahrer stieg aus, kramte in seiner Hosentasche nach einem Schlüssel, ging zur Eingangstür und verschwand im Haus. Romanov blieb noch einige Minuten stehen, bevor er sich auf die Suche nach seinem Quartier machte.
Sonja Nilsson blätterte durch den Bericht des Labors, der die Untersuchungsergebnisse der Kugel enthielt, die Michael Tegmark verfehlt hatte. Sie hatte ihn gerade gelesen und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Sonja, die Tochter des Kriminaldirektors Bernhard Nilsson, war seit etwas über einem Jahr bei Michael Tegmark beschäftigt. Nach ihrem Informatik-Studium war sie zwei Jahre als Praktikantin beim Landeskriminalamt in Düsseldorf gewesen, wo sie als Computerspezialistin in der Kriminaltechnischen Untersuchung gearbeitet hatte. Sie hatte gehofft, dort eine feste Anstellung zu bekommen, doch es war zu der Zeit keine Planstelle frei. Also hatte sich ihr Vater an seinen Studienfreund gewandt, und der hatte sie sofort eingestellt. Seitdem betreute sie im Labor alles, was mit Computern zu tun hatte.
An die Zeit beim LKA dachte sie mit Wehmut zurück. Die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht und die Kollegen waren nett. Zu nett manchmal, denn sie blickte auf zwei mehr oder weniger heftige Affären zurück, die aber zum Glück in Freundschaft beendet wurden. Die nur zwei Wochen dauernde Liebschaft mit Dieter hatte sie gut verkraftet, die längere Beziehung mit Walter Dernekamp jedoch hing ihr noch in den Knochen. Immer wieder dachte sie an ihn, doch es war sicher besser, dass er die Beziehung beendet hatte und zu seiner Frau zurückgekehrt war. Sie hätte sich mit anderen Männern trösten können, als zweiunddreißigjährige, gut aussehende, sportliche Blondine hatte sie bei Männern alle Chancen, doch sie wollte sich, abgesehen von einer einzigen Nacht mit einem jungen Chemiker des Labors, nicht auf eine neue Beziehung einlassen.
Entschlossen setzte sie sich an ihren Computer und wählte sich in das interne Netz des Bundeskriminalamts ein. Zum Glück hatte sie noch ihre Code- Karte, die man bei ihrem Ausscheiden aus dem LKA nicht zurückgefordert hatte. Als Praktikantin hatte sie keine eigene Karte gehabt, doch Walter hatte ihr eine Zweitkarte verschafft, die er bisher nicht zurückforderte. Wahrscheinlich hatte er es vergessen.
Sonja gab das Passwort ein und bestätigte es mit einem besonderen Sicherheitscode. Das System akzeptierte, und eine Suchmaske erschein. Zum Glück hatte ihr Kollege die Riefen und Scharten, die das Polarisationsmikroskop auf der Kugel sichtbar machte, bereits codiert, so dass Sonja im Untermenü „bullet search“ nur noch die lange Zahlen- und Buchstabenreihe des Codes eingeben musste. Augenblicklich erschienen sechzehn Seiten Text und zwei Bilder.
Ist ja interessant, dachte Sonja und druckte die gesamte Datei aus. Dann loggte sie sich wieder aus und machte sich an das Studium des Ergebnisses ihrer Suche.
Zwanzig Minuten später rief sie ihren Kollegen Gerd Patzoleit an, der die mikroskopische Untersuchung der Kugel Durchgeführt hatte.
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