Veronika wollte wissen, welche Aspekte seines Berufs, oder besser gesagt seiner Berufung die schönsten waren.
Natürlich waren es die Hochzeiten und die Taufen, die ihm am angenehmsten waren. Junges Glück und neues Leben zu segnen, das waren seine befriedigendsten Aufgaben. Dafür lohnte es sich, diesen Weg gegangen zu sein. Dann wurde er nachdenklicher und er sagte langsam: „Angehörige zu beerdigen und den Trauernden Trost zu spenden, das ist nicht immer leicht. Menschen zu begleiten, die gerade einen ihrer Liebsten verloren haben, ist eine große und wichtige Aufgabe, die nicht spurlos an einem vorübergeht. Sehen sie, erst heute Vormittag hatte ich ein recht trauriges Erlebnis, das ich so noch nie zuvor erfahren habe.“
Veronika bekräftige ihn, von diesem Erlebnis zu berichten. Er hob die Augen und begann: „Heute Mittag wurde ein Mann beerdigt. Er war Mitte fünfzig. So jung!“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein Alter, in dem man sterben sollte. Und der Arme kam zu Tode, als er zu Hause in seiner Wohnung am Fenster stand und eine Zigarette rauchte. Gott weiß, warum er das Gleichgewicht verlor und aus dem Fenster fiel. Er musste etwas erblickt und sich weit nach vorne gebeugt haben. Passanten haben ihn dann im Garten liegend gefunden. Schrecklich, so plötzlich aus dem Leben gerissen zu werden.“
Martin sah Veronika interessiert an.
„Aber das Unglaubliche heute Mittag bei der Beerdigung war“, Pfarrer Rebler beugte sich nach vorne, „dass bei der Beerdigung nur eine Person anwesend war, die Abschied nehmen wollte. Nur eine Person! Diese kümmerte sich um alles.“ Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ich frage mich immer wieder, wie der Mann gelebt haben musste, dass ihn niemand auf dem letzten Weg begleiten wollte. Ich meine, man hinterlässt doch Spuren in seinem Leben. Man hat Familie, Freunde und Bekannte?“
„Das ist allerdings seltsam“, warf Martin ein. „Das muss sehr ernüchternd für Sie gewesen sein.“
„Ja, das war es auch. Sehen Sie, das sind die Momente, bei denen auch ich resigniere.“ Sein Gesicht veränderte sich und bekam etwas Trauriges und hoffnungsloses.
Veronika hatte vollstes Verständnis. Sie senkte die Augen. Wie einfühlsam Pfarrer Rebler war, dachte sie, und wie schön, dass er seine Berufung, seine Lebensaufgabe gefunden hatte.
Nach dem Abendessen verabschiedeten sich Martin und Veronika. Sie bedankten sich für die Gastfreundschaft. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, fragte Martin: „Ist das nicht seltsam?“
„Was meinst du?“
„Na, diese Geschichte, die der Pfarrer vorhin erzählt hatte. Von diesem Mann und seiner Beerdigung.“
„Ja, traurig, nicht?“
„Ich finde sie eher erstaunlich. Was für ein Mensch muss das gewesen sein, wenn heute niemand zu seiner Beerdigung kam? Ich meine, jeder normale Mensch hat irgendwelche Bezugspersonen, Freunde, Familie. Man hinterlässt doch etwas. Man geht doch nicht und hat nichts bewegt im Leben?“
„Vielleicht war er neu hier in der Gegend? Oder vielleicht hatte er außer dieser Person keine Verwandte mehr?“
„Möglich.“ Martin nickte. Zu gern hätte er mehr über die Umstände und den Mann erfahren. Da nahm er Veronika an der Hand. Er führte sie zu einem gläsernen Kasten, der an der Außenwand der Kirche hing. Im Inneren war das Pfarrblatt und ein Infoblatt mit kirchlichen Terminen ausgehängt. Er brauchte nicht lange zu suchen, schon fand er die heute Mittag stattgefundene Trauerfeier. Er las den Namen, der dort geschrieben stand: „Otto Dujardin.“
Martin und Veronika saßen gemeinsam am Frühstückstisch. Er hatte heute Spätschicht im Fotostudio Foto-Schönit und musste erst um 14 Uhr im Ladengeschäft sein. Veronika hatte ihren ersten Kunstkurs in der Kunsthalle Karlsruhe um 12 Uhr. So lasen sie ohne Zeitdruck die Badischen Neuesten Nachrichten und den heute neu erschienenen Kurier . Martin las gerne die Kleinanzeigen. Er liebte es, Schnäppchen zu machen und Einrichtungsgegenstände, Kleider, Möbel und dergleichen billiger zu erwerben. Letzten Sommer hatte er für kleines Geld ein neues, sehr gut erhaltenes Bett für Veronika und ihn erworben. Das hatte ihn höchst erfreut und jedem erzählte er noch wochenlang von dem günstigen Kauf.
„Hier bitte, die Zeitung“, Veronika reichte ihm die BNN über den Tisch. „Gibst du mir dann den Kurier , wenn du ihn ausgelesen hast?“
„Einen Moment noch, du kannst ihn gleich haben.“ Er war noch ganz im Kleinanzeigenteil vertieft. Dann plötzlich las er laut vor: „Wohnungsentrümpelung, Freitag, den 18.05.2017, 17 bis 18 Uhr, Bergstraße 155, bei Dujardin klingeln.“ Er blickte Veronika mit funkelnden Augen an.
Diese begriff nicht, was er damit andeuten wollte. Die Anzeige sagte ihr im ersten Moment nichts.
„Dujardin!“, wiederholte Martin. „Das ist doch der Name des verstorbenen Mannes, von dem Pfarrer Rebler erzählt hatte. Hier steht, dass seine Wohnung entrümpelt wird. Ich möchte da unbedingt hingehen und sehen, wie dieser Mann gewohnt hat.“
„Ach Martin, lass doch gut sein. Lass den Mann in Frieden. Wir haben genug zu tun in der nächsten Zeit.“
„Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht magst.“
Veronika schaute Martin verärgert an. Sie wusste genau, wenn sich Martin etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte sie dem nichts entgegensetzen. „Glaubst du denn, dass es dort irgendein Geheimnis gibt?“, fragte sie schließlich.
„Nein, nicht wirklich, aber ich bin neugierig. Also, was ist, kommst du mit?“
Widerwillig gab sie nach. Martin freute sich sehr. Vielleicht gibt es etwas zu entdecken, sagte er sich.
Martin und Veronika stiegen ins Auto. Er hatte sich zuvor bei Google-Maps angeschaut, wo in Bruchsal die Wohnung von Otto Dujardin lag. Es ging vorbei am Schlachthof in Richtung Heidelsheim. Martin bog in eine am Rand von Bruchsal gelegene Straße ein. Das Haus war das letzte auf der rechten Seite, kurz bevor die Felder begannen. Da Martin immer sehr pünktlich war und er es hasste, wenn man zu spät kam, waren sie eine Viertelstunde vor der eigentlichen Aktion dort.
„Hier ist es, Bergstraße 155.“ Martin las die Klingelschilder und sogleich fand er auch den Namen Dujardin. Er klingelte. Auch wenn sie etwas zu früh dran waren, hoffte er, dass bereits jemand da war. Er wollte unbedingt der erste sein und sich die Wohnung genau anschauen. Zu spannend erschien es ihm, die Einrichtung zu sehen von jemandem, der offenbar niemanden interessiert hatte. Es erklang ein Summton und die Tür öffnete sich. Sie stiegen hinauf ins zweite Obergeschoss. Eine freundliche, großgewachsene Frau, adrett gekleidet mit dunkelblonden kurzen Haaren und einer randlosen Brille empfing beide in der Eingangstür. Martin klärte ab, dass sie wegen der Entrümpelung gekommen waren. Die Frau nickte und bat Martin und Veronika hinein.
Die Wohnungseinrichtung enttäuschte Martin sehr. Es schien alles sehr normal zu sein. Jedes Zimmer hielt genau das, was der Name versprach. Das Einzige, was Martin auffiel, war, dass alles so penibel aufgeräumt war. Alles war akkurat angeordnet, nichts stand einfach nur so herum. Die Einrichtung war zeitlos, weder modern noch antik. Ein Möbelstück, das Martin ansprechend fand, war ein alter Sekretär, der im Wohnzimmer neben einer großen Topfpflanze stand. Er war das Einzige seiner Art. Martin fragte die Frau, ob er ihn anfassen und öffnen durfte. Die Frau bejahte und sogleich betastete, befühlte er das alte Holz. „Schöne Maserung“, murmelte er. „Ich schätze, dass das Stück aus Kirschholz gefertigt wurde.“ Wieder bejahte die Frau und fügte hinzu, dass er sich wohl gut mit Möbelstücken auskennen würde. Geschmeichelt öffnete Martin die Schubladen. Sie gingen nur schwer auf. Enttäuscht musste Martin feststellen, dass die Schubladen bereits leer geräumt waren. Oberhalb der Schubladen gab es eine Schreibplatte, die aufgeklappt werden konnte. Kleine Fächer, Ablagen und Schublädchen verbargen sich im Inneren. Martin gefiel der Sekretär außerordentlich gut. Und da sich sonst nichts Außergewöhnliches in der Wohnung finden ließ, beratschlagte er mit Veronika, ob sie diesen Sekretär nicht einfach mitnehmen sollten.
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