»Was will man mehr«, erwidert diese und fährt los, nicht ohne die Musik laut aufzudrehen.
Kurzzeitig schießen ihr die pikanten Szenen des Traums durch den Kopf, doch sie bleibt ganz ruhig. Immer wieder redet sie sich ein, dass es nur ihre Fantasie ist, die ihr niemand nehmen kann. Nun hat sie immerhin ein kleines, intimes Geheimnis für sich ganz allein. Ob er tatsächlich … Nein, daran will sie jetzt nicht denken. Jählings reißt sie sich zusammen und blickt nach links auf die Landschaft.
Sie verlassen Landsbury und schon bald ist das Meer nicht mehr zu sehen. Allmählich rücken auch ihre verrückten Überlegungen in den Hintergrund, denn nach und nach wird ihr vollends bewusst, dass heute das finale Konzert der großen Welttournee in London stattfindet. Ein Kribbeln im Bauch kündigt schlagartig die Vorfreude an. Erst jetzt erinnert sie sich auch daran, dass sie gestern Nacht lange nicht einschlafen konnte. Viel zu aufgeregt war sie gewesen.
Die Veranstaltung vor acht Jahren war bereits fantastisch, aber das ist sicherlich nichts im Vergleich zu den heutigen Events. Denn das, was sie in den aktuellen Konzertmitschnitten gesehen hatte, war einfach grandios. Zugegeben, ein bisschen ist sie schon auf ihn gespannt. Mittlerweile strahlt er auf der Bühne eine unheimliche Selbstsicherheit aus, agiert viel mehr mit den Fans als damals. Lilith kann es kaum erwarten, endlich an der Halle anzukommen.
»Na? Aufgeregt?«, fragt die Gefährtin sie amüsiert.
»Und wie! Ich bin so gespannt!«
Grinsend legt Sonja die aktuelle Scheibe ein. Kaum ertönt seine Stimme, singen beide aus vollem Hals mit.
Ob er tatsächlich so charmant wie in ihrem Traum ist, oder war das nur ihr Wunschtraum? Aber das wird sie wahrscheinlich nicht herausfinden. Außer … Nein! Erneut versucht sie den weiteren Gedankengang wegzuwischen. Daran darf sie nicht einmal annähernd denken! Schließlich ist sie kein Teenager mehr. Schnell blickt sie aus dem Fenster, um sich abzulenken.
Allmählich nähern sie sich der Hauptstadt, sie war schon lange nicht mehr da. Es gab, seitdem sie in dem idyllischen Küstenstädtchen lebt, nichts, was sie nach London gezogen hätte. Die Hektik der Großstadt ist ihr mittlerweile zuwider. Als Jugendliche wollte sie immer wieder hierher und nutzte jeden Schulausflug dazu. Damals hätte sie sich sogar vorstellen können, in dieser riesigen Stadt zu leben. Lilith schmunzelt, als sie an ihre Mutter denkt, die verzweifelt versuchte ihr das Ganze auszureden und bei ihr zu bleiben - mit Erfolg. ›Ach, Ma, wie recht du doch hattest.‹
Trotz allem beschlossen Sonja und sie vor knapp sechs Jahren ihr Elternhaus zu verlassen. Irgendwann wollten die beiden ebenso wie jeder andere Mensch auf eigenen Füßen stehen. Monatelang suchten sie nach dem passenden Fleckchen Erde für sich. Obwohl ihre Mütter es nicht gern sahen, dass sie wegziehen wollten, unterstützten sie sie dabei. Manchmal vermissen sie ihre Familien noch heute. Regelmäßig telefonieren sie miteinander, um sich Ratschläge einzuholen oder einfach nur, um mit ihnen zu reden und die wohlvertrauten Stimmen zu hören.
Als sie sich wieder auf die Umgebung konzentriert, bemerkt sie, dass sie sich bereits mitten in London befinden, so sehr war sie in den Erinnerungen versunken. Sie blickt auf ihre kleine silberne Uhr. Es ist erst kurz vor vier.
»Wir sind ja viel zu früh dran. Was machen wir in der ganzen Zeit bis zum Konzert?«, fragt sie neugierig.
»Zuerst müssen wir mal einen Stellplatz finden. Wer weiß, wo wir das Auto abstellen müssen! Danach sehen wir weiter.«
Bereits jetzt kann sie die Kuppel der Halle erkennen. Gleich sind sie da! Ihr Herz beginnt zu rasen, ihre Handflächen werden feucht. Noch nie war sie in der Royal-Albert-Hall gewesen. Die Bilder vom Inneren der Location haben sie sofort begeistert. Hoffentlich hat sie die richtige Wahl mit der Loge getroffen. Lieber wäre sie unten im Saal gewesen, um die Band zu feiern, doch die Stehplätze waren innerhalb von Sekunden ausverkauft gewesen und sie hatte doch etwas zu lang gezögert.
Sonja fährt auf einen der überfüllten Plätze. Kein freier Stellplatz mehr zu sehen, fluchend sucht sie weiter. Auf dem dritten angefahrenen Parkplatz finden sie endlich eine winzig kleine Lücke. So schnell hat sie wahrscheinlich noch nie eingeparkt. Glück gehabt, denn als sie aussteigen, suchen bereits die Nächsten eine Parklücke.
»Das ging ja grade noch einmal gut«, meint die Freundin erleichtert. »Die Location muss ja völlig überfüllt sein!«
Langsam schlendern sie zwischen den Häusern Richtung Konzerthalle, obwohl sie am liebsten rennen würde. Aber wozu? Der Einlass findet erst in einer Stunde statt.
»Was machen wir denn jetzt noch?«, fragt Lilith erneut. Gleichzeitig entdeckt sie von weitem Kensington Gardens und deutet darauf. »Lass uns doch noch etwas spazieren gehen.«
»Gute Idee!«
Kaum schlendern sie am Seiteneingang des Rundbaus vorbei, fährt ein riesiger schwarzer Bus vor. Neugierig schaut sie auf und entdeckt den Schriftzug Bitter Elation . Es ist der Tourbus! Plötzlich wird ihr heiß und kalt zugleich, das Blut schießt ihr ins Gesicht und färbt ihre Wangen wahrscheinlich umgehend knallrot. Tief durchatmend hebt sie den Blick zu den Fenstern und erstarrt. Irgendetwas lässt sie eine der schwarz getönten Scheiben fixieren, obwohl sie logischerweise dahinter nichts sehen kann, während Sonja sie mit sich weiterzieht. Das ist auch gut so - denn kaum hält der Bus, stürmen bereits die ersten Fans herbei, um ein heiß begehrtes Autogramm zu ergattern.
»Willst du warten? Soll ich versuchen ein Autogramm für dich zu bekommen?«, fragt die Gefährtin, die noch immer innerlich erstarrte Lilith.
Diese schüttelt den Kopf und geht langsam rückwärts weiter. Zu faszinierend ist der Anblick, als sich die Tür geräuschlos öffnet und ein Bandmitglied nach dem anderen aussteigt. Der Sänger verlässt als letztes den Bus. Wie angewurzelt bleibt sie stehen.
Obwohl sie sich bereits etliche Meter vom Bus entfernt haben, kann sie erkennen, dass er sie sofort fixiert und sie regelrecht mustert. »Sag mir bitte, dass ich mich täusche«, flüstert sie, unterdessen sie nicht aufhören kann ihn weiter anzustarren.
»Nein, du täuschst dich wirklich nicht, außer wir brauchen beide eine Brille. Ja, er schaut dich tatsächlich an.«
Dann wendet er endlich den Blick von ihr ab. »Lass uns von hier verschwinden!«, sagt Lilith beinahe erleichtert und zieht an Sonjas T-Shirt.
»Warte!«, sagt diese auf einmal und nun ist sie diejenige, die einen Punkt in der Menge vor sich fixiert.
»Was ist los?«
»Ich weiß es nicht genau, aber irgendetwas ist da. Ich kann es nicht beschreiben. Aber es fühlt sich … vertraut an«, antwortet sie.
Sofort betrachtet sie ebenfalls aufmerksam die Menschenansammlung und plötzlich nimmt auch sie das unbekannte und dennoch vertraute Gefühl wahr. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Aber es ist verdammt stark! Los lass uns gehen!«, sagt die Freundin hastig.
Noch immer versucht Lilith die Ursache der Empfindung zu ergründen und erkundet noch einmal rasch die Menge. Da erblickt sie den Sänger erneut. Abermals mustert er sie und sie bemerkt einen Funken des Wiedererkennens in seinen Augen. »Oh nein! Was habe ich getan?«, stammelt sie bestürzt.
Schnell dreht sie sich herum und die beiden eilen über die breite und stark befahrene Hauptstraße, in den Park. An einer Parkbank halten sie endlich an und setzen sich, um zu verschnaufen.
»Was ist denn los, Süße?!«, fragt Sonja sie besorgt.
Sie kann es aber nach wie vor nicht begreifen, immer wieder stammelt sie: »Er hat mich erkannt! Was habe ich getan?«
»Nichts Schlimmes, nichts Böswilliges und vor allem war es keine Absicht, oder?«, versucht die Begleiterin sie zu beruhigen. »Es war dein Unbewusstsein, das kannst du im Schlaf nicht so einfach steuern! Vergiss es, okay?«
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