Wappel stapfte aus Krügers Büro. Dieser sah ihm kopfschüttelnd nach, danach bestellte er Nina zu sich.
Mit spitzen Fingern schob er ihr den Hefter zu, den Wappel gebracht hatte. „Schreiben Sie bitte einen neuen Bericht, übernehmen Sie aber nur die Tatsachen“, sagte er zu ihr, „danach schauen wir das gemeinsam an.“
***
Nina kämpfte sich durch die Seiten. Das Wesentliche, ein Fahrzeug, dessen Besitzer verschwunden war, parkte seit Tagen in der Nähe des Rheins. Immerhin eine saubere Identifikation der Person. Der Rest bestand aus wirren Vermutungen, die zusammengefasst den Verschwundenen als wahrscheinlichen Täter bezeichneten.
Stefan Hehlen, neunundvierzig, ledig, selbständiger Makler aus Frankfurt am Main, nicht als vermisst gemeldet. Keinerlei Einträge im Polizeiregister. Ein Foto des Mannes war an die Akte angeheftet. Ob sich Wappel die Mühe gemacht hatte, das Bild der Heimleiterin oder dem Pfarrer zu zeigen, war nicht vermerkt.
***
Krüger ließ das Fahrzeug abholen, Nina machte sich auf den Weg nach Grenzach. Der Pfarrer hielt es für möglich, dass Hehlen an der Beerdigung teilgenommen hatte, wollte sich jedoch nicht festlegen.
Schließlich saß Nina wieder Frau Schultheß gegenüber, die das Foto achselzuckend betrachtete. „Tut mir leid, Frau Böhringer, ich kann Ihnen nicht helfen.“
„Das macht nichts“, versuchte Nina, zu trösten. „Wie ist das abgelaufen, nachdem Linda verstorben war? Wer hat wen benachrichtigt? Waren Sie es selbst?“
Die Heimleiterin schüttelte den Kopf. „Nein, das macht Schwester Ingrid, das gehört zu ihren Aufgaben.“
Nina sah sie fragend an. „Ist sie anwesend?“
„Möchten Sie mit ihr sprechen?“
„Ja, bitte!“
Schwester Ingrid erschien als traditionell wirkende Krankenschwester mit weißem Häubchen, unter dem sich graue Haare erkennen ließen. Eine dunkle Brille mit eckigen Gläsern rundete das Bild ab.
Die Brille ist furchtbar, dachte Nina spontan. Jemand sollte ihr sagen, dass es auch modische Gestelle gibt.
Frau Schultheß stellte sie vor, und Schwester Ingrid führte Nina zu einem winzigen Kabuff, offenbar ihr Büro.
Schon auf dem Weg erklärte Nina, was sie wissen wollte.
„Ja, ich habe Frau Schneider angerufen“, bestätigte Schwester Ingrid, „habe sie jedoch nicht erreicht, nur einen Anrufbeantworter. Sie hat jedoch gleich zurückgerufen, es waren höchstens zehn Minuten vergangen.“
„Wissen Sie die Nummer noch?“
Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über das Gesicht der Schwester. „Nein, Frau Böhringer, auswendig nicht!“
Sie schob eine Schrankfront zur Seite. Für Türen war in dem winzigen Raum kein Platz. Dahinter wurde ein alphabetisch geordnetes Register sichtbar. „Hier sind die Daten aller Bewohner hinterlegt, für jeden zugänglich. In einem Notfall muss das schnell gehen“, erklärte sie.
„Ist die Liste oder das Blatt von Linda noch da?“, wollte Nina wissen.
„Möglich.“ Schwester Ingrid zog ein Blatt Papier hervor. „Ja, da ist es!“
Genau wie Lukas Schneider vermutet hatte, war eine zweite Nummer mit einem anderen Stift vermerkt.
„Kann ich das mitnehmen?“
Ingrid zog die Brauen hoch. „Mitnehmen…“, wiederholte sie.
„Eine Kopie würde genügen“, schwächte Nina ab.
Die Schwester nickte. „Das sollte kein Problem sein, wenn die Chefin einverstanden ist.“
„Haben Sie sonst noch jemanden verständigt? Die zweite Nummer angerufen, zum Beispiel?“, fragte Nina weiter.
„Nein.“
„Könnte es sonst jemand getan haben?“
„Was getan, die alte Nummer angerufen, meinen Sie?“
Nina bestätigte.
„Dazu gab es keinen Grund. Meine Schicht hatte gerade angefangen, und bis die Ablösung erschien, lag Linda schon aufgebahrt in der Kapelle. Ihr Zimmer stand bereits leer, als ich ging.“
„Dann ist es eher unwahrscheinlich“, stellte Nina fest.
„Sehr unwahrscheinlich. Angehörigen eine Todesnachricht mitzuteilen ist nicht jedermanns Sache“, antwortete Ingrid.
Nina nickte verständnisvoll. Sie gab die Nummer an Grünwald durch, noch bevor sie den Rückweg antrat.
***
Wie Grünwald schnell herausfand, gehörte der Anschluss zu einer Adresse in Freiburg. Darunter war allerdings keine Erna Schneider gemeldet. Offiziell wohnte sie immer noch bei ihrem Mann in Emmendingen, einige Kilometer nördlich von Freiburg.
Am späten Nachmittag suchte Nina mit Erwin Rohr und einem Techniker die Wohnung auf, die im dritten Stock eines grauen Mehrfamilienhauses lag.
Der Briefkasten mit der Aufschrift S. Schneider quoll über. Ein Zeichen, dass schon einige Tage keiner zu Hause gewesen war.
Nachdem sie einige Male geklingelt hatten, öffnete Rohr die Tür. Das einfache Schloss der Wohnung bot kaum Widerstand.
Die Rollläden waren herabgelassen, nur zwischen den Lamellen sickerte etwas Licht in die Räume.
„Hallo, hier ist die Polizei, ist jemand da?“
Nachdem auch dieser Ruf ohne Wirkung verhallt war, traten sie ein.
Der Flur führte direkt in ein Wohnzimmer mit offener Küchenzeile an der Seite. Zwei verschlossene Türen gingen vom Flur ab. Angeklebte Schilder deuteten auf ein Bad und ein Schlafzimmer.
Die Möbel schienen neuwertig. Ein dicker Orientteppich aus Wolle lenkte den Blick auf eine Polstergruppe mit niedrigem Beistelltisch, alles sehr klassisch und gepflegt.
Ganz anders das Schlafzimmer. Viel roter Plüsch, glänzende Bettwäsche. Vor dem breiten Bett stand eine Kamera mit Stativ, ausgerichtet auf die Mitte der Zimmerwand, der nichts von dem, was im oder auf dem Bett passierte, entging.
Rohr betrachtete die Szene nachdenklich. Nina öffnete den Schrank, der mit Unmengen von Spitzendessous in allen möglichen Farben vollgestopft war.
Rohr folgte einem Kabel, das in einer Steckdose endete. Direkt unter einem großen Aktbild. Rohr hob es vom Haken und stellte es auf den Boden. Dahinter, in einer Nische, erschien ein Computer mit Bildschirm und Tastatur.
„Cybersex“, murmelte der Techniker.
Während Nina das Bad durchsuchte, nahmen sich Erwin Rohr und sein Mitarbeiter den Rest der Wohnung vor.
Der Anrufbeantworter im Wohnzimmer blinkte nervös. Der Techniker drückte auf einen Knopf. Insgesamt drei Nachrichten wurden abgespielt, die sich alle an eine Melanie richteten. „Wo bist du, wann sieht man dich wieder, machst du Urlaub?“
„Vermutlich ihr Künstlername“, grinste Rohr.
Nina steckte den Kopf aus der Tür. „Kein Anruf vom Heim in Grenzach?“
Die Herren schüttelten den Kopf.
„Dann hat sie das gleich gelöscht“, stellte sie fest.
In einer Schublade fanden sich schließlich persönliche Papiere, die belegten, dass es sich um die Wohnung von Erna Schneider handelte. Eine Geburtsurkunde, ein Blutspenderausweis und ein abgelaufener Reisepass.
Damit war der Zweck des Einsatzes erledigt, eine vollständige Durchsuchung sah der Beschluss nicht vor.
Trotzdem versiegelten sie die Wohnung, nachdem alles bis auf den Pass wieder an seinem Platz lag.
***
Am Samstag war es soweit: Die Hochzeit von Eric Guerin und Michélle Steinmann, die in der Sankt-Georgs-Kirche in Sélestat stattfinden sollte. Die altehrwürdige Kirche aus dem Mittelalter, im gotischen Stil errichtet, hatte Guerin schon immer sehr bewundert.
Die Feierlichkeiten begannen jedoch schon am Freitag. Krüger hatte den Tag freigenommen. Das Brautpaar wurde im Wochenendhaus Krügers in Kintzheim untergebracht, damit sie sich ungestört auf die standesamtliche Trauung vorbereiten konnten.
Auch die Trauzeugen Kommissar Gruber mit seiner Partnerin Sonja Sperling waren bereits am Freitag eingetroffen. Diesen Tag wollten sie feiernd im engsten Kreis zusammen verbringen. So gut man sich auch inzwischen kannte, noch nie waren sie alle gleichzeitig beieinander gewesen.
Читать дальше