Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj
Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
Impressum
Es war zu Beginn des Frühlings. Wir reisten bereits den zweiten Tag. Für kürzere oder längere Strecken stiegen Passagiere in den Zug ein und stiegen wieder aus, nur drei Reisende waren, ebenso wie ich, schon von der Abgangsstation aus unterwegs: eine Dame, weder hübsch noch jung, die Zigarette im Mund, mit abgespannten Gesichtszügen, in einem halb nach Herrenart zugeschnittenen Paletot und einer Kappe; ein Bekannter der Dame, ein gesprächiger Vierziger, sorgfältig und modern gekleidet, und noch ein Herr von kleinem Wuchse, der sich abseits hielt, jedoch durch seine heftigen Bewegungen auffiel; er war noch nicht alt, sein krauses Haar war augenscheinlich vorzeitig ergraut und seine auffallend glänzenden Augen flitzten rasch von einem Gegenstand zum andern. Er trug einen alten Paletot mit Lammfellkragen, den einstmals ein tüchtiger Schneider angefertigt haben mochte, und eine hohe Lammfellmütze. Wenn er den Paletot aufknöpfte, gewahrte man darunter ein ärmelloses Wams und ein gesticktes russisches Hemd. Eine Eigentümlichkeit dieses Herrn war, daß er von Zeit zu Zeit seltsame Laute ausstieß, die einem Räuspern oder einem eben begonnenen, jedoch plötzlich unterdrückten Lachen glichen.
Dieser Herr hatte während der ganzen Fahrt jede Unterhaltung und Bekanntschaft mit den übrigen Reisenden sorgfältig vermieden. Auf Anreden der Nachbarn gab er kurze, schroffe Antworten, sonst las er oder sah rauchend zum Fenster hinaus oder holte aus einer alten Reisetasche seinen Proviant hervor, trank Tee oder stärkte sich durch einen Imbiß.
Ich hatte den Eindruck, daß seine Vereinsamung ihm lästig sei, und wollte ihn mehrmals ansprechen, aber jedesmal wenn unsere Augen einander begegneten – was häufig geschah, da wir einander schräg gegenübersaßen – wandte er sich ab und nahm sein Buch vor oder blickte zum Fenster hinaus.
Als der Zug am späten Nachmittag des zweiten Tages auf einer großen Station hielt, stieg dieser nervöse Herr aus, um sich siedendes Wasser zu holen, und bereitete sich im Kupee Tee. Der sorgfältig und modern gekleidete Herr – wie ich später erfahren sollte, ein Advokat – war mit seiner Nachbarin, der rauchenden Dame in dem halb nach Herrenart zugeschnittenen Paletot, in den Wartesaal gegangen, um dort Tee zu trinken.
Während der Abwesenheit des Herrn und der Dame stiegen etliche neue Personen ein, darunter auch ein hochgewachsener, glattrasierter Alter mit runzeligem Gesicht, anscheinend ein Kaufmann, in einem Iltispelz und einer Tuchmütze mit mächtigem Schirm. Der Kaufmann nahm gegenüber dem Sitze des Advokaten und der Dame Platz und begann sogleich ein Gespräch mit einem jungen Menschen, dem Aussehen nach einem Handlungsgehilfen, der gleichfalls auf dieser Station eingestiegen war.
Ich saß den beiden gegenüber, und da der Zug stillstand, konnte ich in den kurzen Augenblicken, wenn gerade niemand vorüberging, Bruchstücke ihrer Unterhaltung hören. Der Kaufmann erzählte zunächst, er fahre nach seinem Gute, das nur eine Station weit abliege; dann kamen sie wie gewöhnlich auf die Marktpreise, die Moskauer Geschäftslage und die Nishnij-Nowgoroder Messe zu sprechen. Der Handlungsgehilfe begann von den Orgien zu schwärmen, die ein ihnen bekannter reicher Kaufmann auf der Messe gefeiert habe, der Alte ließ ihn jedoch nicht ausreden, sondern begann selbst von einstigen Zechgelagen in Kunawino, die er mitgemacht hätte, zu erzählen.
Er war offenbar stolz auf seine Teilnahme an jenen Gelagen und berichtete schmunzelnd, wie sie einmal mit eben jenem Bekannten zusammen in Kunawino einen ganz tollen Streich verübt hätten, von dem man nur im Flüstertone reden könne, worauf der Handlungsgehilfe in ein solches Gelächter ausbrach, daß es im ganzen Wagen widerhallte; auch der Alte stimmte in das Lachen ein und ließ seine beiden noch vorhandenen Zähne sichtbar werden.
Ich versprach mir nicht viel Interessantes von der weiteren Unterhaltung der beiden und stand auf, um mich bis zum Abgange des Zuges noch ein wenig auf dem Bahnsteig zu ergehen. In der Tür begegnete ich dem Advokaten mit der Dame, die sich über irgend etwas lebhaft unterhielten.
»Sie werden nicht mehr weit kommen,« sagte der gesprächige Advokat zu mir, »es wird gleich zum zweitenmal geläutet.«
In der Tat hatte ich kaum den letzten Wagen erreicht, als das Glockenzeichen erklang. Ich kehrte in mein Kupee zurück, wo die Dame und der Advokat immer noch ihre lebhafte Unterhaltung fortsetzten, während der alte Kaufmann ihnen schweigend gegenübersaß, streng vor sich hinschaute und von Zeit zu Zeit mißbilligend an den Lippen kaute.
»... Sie erklärte also ihrem Gatten kurz und bündig,« sagte der Advokat lächelnd, als ich an ihm vorüberging, »daß sie mit ihm nicht zusammenleben könne und wolle, da ...«
Und er begann irgend etwas zu erzählen, was ich nicht verstand. Hinter mir stiegen noch andere Passagiere ein, dann kam der Zugführer, ein Gepäckträger eilte vorüber und es gab noch eine ganze Weile Trubel und Geräusch, so daß man das Gespräch der beiden nicht hören konnte. Als es endlich still geworden war und ich wieder die Stimme des Advokaten vernahm, war die Unterhaltung zwischen ihm und der Dame anscheinend bereits von dem Sonderfall auf allgemeine Betrachtungen übergegangen.
Der Advokat meinte, daß die Ehescheidungsfrage augenblicklich die öffentliche Meinung in Europa lebhaft beschäftige und daß auch bei uns derartige Fälle immer häufiger vorkämen. Als er merkte, daß alles ringsum schwieg und nur seine Stimme zu vernehmen war, brach er die Unterhaltung mit der Dame ab und wandte sich zu dem Alten.
»In der alten Zeit kamen solche Dinge nicht vor, nicht wahr?« sagte er leutselig lächelnd.
Der Alte wollte etwas erwidern, in diesem Augenblick jedoch setzte sich der Zug in Bewegung und der Alte nahm seine Mütze ab, bekreuzigte sich und begann im Flüstertone zu beten. Der Advokat wandte seinen Blick zur Seite und wartete respektvoll. Als der Alte sein Gebet samt der dreimaligen Bekreuzigung beendet hatte, setzte er seine Mütze gerade und tief in die Stirn, machte es sich auf seinem Platze bequem und nahm dann das Wort:
»Sie kamen auch früher wohl vor, mein Herr,« sagte er, »wenn auch nicht so häufig. Heutzutage kann es ja schließlich nicht anders sein. Die Menschen sind schon gar zu gebildet geworden.«
Der Zug bewegte sich immer rascher und rascher und fuhr donnernd über die Schienenkreuzungen; ich konnte nicht recht hören, was die beiden sprachen, ihre Unterhaltung zog mich jedoch an und so rückte ich näher zu ihnen hin. Mein Gegenüber, der nervöse Herr mit den glänzenden Augen, interessierte sich anscheinend gleichfalls für den Gegenstand des Gespräches und hörte aufmerksam zu, ohne im übrigen seinen Platz zu verlassen.
»Was ist denn an der Bildung so Übles?« fragte die Dame mit kaum merklichem Lächeln. »Ist es vielleicht richtiger, sich so zu verheiraten, wie es in der alten Zeit geschah, als Bräutigam und Braut einander vorher überhaupt nicht zu Gesicht bekamen?« fuhr sie fort, indem sie nach Art vieler Damen nicht auf das eben Gesagte erwiderte, sondern darauf, was ihrer Meinung nach noch gesagt werden könnte.
»Sie wußten nicht, ob sie sich liebten, ob sie sich überhaupt jemals würden lieben können, und sie heirateten den ersten besten, um sich vielleicht ihr ganzes Leben lang zu quälen – ist das etwa nach Ihrer Meinung richtiger?« sagte sie, sich offenbar mehr an mich und an den Advokaten als an den Alten wendend, mit dem sie sich eigentlich unterhielt.
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