„Ich habe keine Mühen gescheut und 6 verschiedene Aufgabengruppen vorbereitet.“ Peters dunkle Prophezeiungen erfüllen sich umgehend. „Alles ist ganz sorgfältig überlegt und ausgeglichen. Keiner kann sich beschweren. Ihr wisst, so etwas gibt es bei mir nicht.“ Es hätte auch keiner erwartet.
Gleich wird sie ihre Zettel aus der Aktentasche ziehen und austeilen. Dann kann Peter einen erste Prognose geben, was er alles weiß und was nicht.
Mit einem Lächeln, das absolute Überlegenheit ausstrahlt, geht sie zum Lehrertisch und zu ihrer Tasche. Diese Überlegenheit ist keine gewöhnliche, nein, es ist eine ganz besondere. Es ist eine Überlegenheit, wie sie nur aus absoluter Unfehlbarkeit erwachsen kann. Und Frau Biller hält sich für unfehlbar. Jetzt hat sie die Tasche erreicht, greift kühn hinein und … erstarrt zur Salzsäule.
Zehn Sekunden lang passiert gar nichts, außer, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht weicht. Dann wühlt sie mit ihrer Hand in der Tasche herum und schaut derweil zur Klasse, mit einem Lächeln. Aber nein, dieses Lächeln ist nicht unfehlbar-überlegen, es ist beschwichtigend, ja schuldhaft. Es ist das Lächeln von jemandem, der bei einer bösen Tat ertappt wurde! „Vorhin waren die Zettel doch noch da!“, beteuert Frau Biller. „Ich weiß gar nicht, wo ...“ Da weicht das ertappte Lächeln aus ihrem Gesicht und das überlegene kehrt zurück. „Wer von euch hat die Aufgabenzettel geklaut?“, durchschneidet ihre Stimme den Raum. Ihre Augen funkeln. Es wirkt. Irgendwie fühlen sich jetzt alle in der Klasse schuldig, obwohl keiner Schuld hat. Die Minuten verrinnen. „Heraus mit der Sprache, wer hat die Aufgaben aus meiner Tasche genommen?“ – „Wie sinnlos“, denkt Peter, „das würde keiner wagen.“ Stimmt, denn die Strafe wären mindestens zehn Stunden Gardinenpredigt von Frau Biller. Das hält kein Schüler aus. Da lieber schreibt man drei Bio-Tests.
Fast ist die Stunde um und von den Aufgaben fehlt noch immer jede Spur. Frau Biller sieht ihre Felle davonschwimmen, denn sie hat den Schuldigen noch nicht gefasst. „Na wartet!“, sagt sie, „beim Hinausgehen kommt ihr alle an mir vorbei und zeigt eure Taschen vor. Ich kriege meine Aufgaben schon zurück!“ Die Durchsuchung beginnt. Peter ist ganz froh, denn so bleibt keine Zeit für einen Test und die Offenbarung seiner Lücken.
Aber ist das nicht trotzdem ein verrückter Tag? Erst Frau Schuhmann und ihre Kunststücke, dann Frau Biller und ihr historisches Vorkommnis, dass sie etwas nicht dabei hat. Was kommt noch alles? Peter würde sich nicht wundern, wenn an Stelle von Hauptmann plötzlich ein Frosch auf dem Lehrertisch sitzen würde.
Aber zu früh gefreut: Herr Hauptmann ist schon da, in seiner gewohnten Gestalt. Seine Miene drückt volle Konzentration aus und lässt jede freudbetonte Schülerregung verstummen. Seine dichten schwarzen Haare hat er mit dem Kamm in einen strengen, akkuraten Scheitel gezwungen. Er ist von großer Statur und flößt allein dadurch den größten Faxenmachern in der Klasse Respekt ein. Überhaupt ist sein Name Programm: er ist der Boss, er sagt, was man zu tun und was man zu lassen hat. Abweichungen? Die sind undenkbar, denn er ist der Hauptmann, er regiert, keiner sonst: denn das Lernen wie das ganze Leben brauchen Ernsthaftigkeit.
Ist Hauptmann ein böser Mensch? Nein, eigentlich nicht, vielleicht ist er im Geheimen, in seiner im Panzerschrank eingeschlossenen Seele sogar nett? Peter weiß es nicht und eigentlich mag er es auch nicht herausfinden. Strenge Lehrer lässt man lieber in Ruhe. Und dass im Deutschunterricht nicht der rechte Frohsinn aufkommt, so wie in Mathe, wenn Frau Schuhmann beim Gestikulieren Gegenstände durch die Klasse feuert, damit hat sich Peter schon lange abgefunden.
„Heute schreiben wir ein Diktat“, beginnt Hauptmann die Stunde ohne Umschweife. Stimmt, ein Mann großer Worte ist er nicht. Er erklärt oder bestimmt etwas, beides kurz und knapp. „In der Kürze liegt die Würze“, ist sein Spruch, den er aber nur an besonderen Tagen bringt, denn der ist als Reim zu nahe am Humor gebaut. Humor und Hauptmann fangen zwar beide mit H an, aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Manchmal denkt sich Peter, dass Gerd Hauptmann bestimmt allergisch gegen Humor ist.
„Schlagt die Diktathefte auf!“, reißt der nächste Befehl des Klassen-Hauptmanns Peter aus seinen Träumer-Gedanken. „Ich habe euch wie immer einen vernünftigen Text herausgesucht, den ihr bitte ohne Fehler zu Papier bringt.“ Das soll bestimmt der letzte Motivationsschub für die unmotivierten Schüler sein, die sonst zu viele Fehler machen, denkt sich Peter. So ein Blödsinn, als ob man sich das heraussuchen könnte.
Genüsslich nimmt Hauptmann ein paar zusammengeheftete Blätter zur Hand. Auf ihnen ist das Diktat abgedruckt. Würdevoll blättert er das Deckblatt um, sodass alle die Überschrift sehen können: Die Räuberbande. Wie sie ihren Lehrer kennen, wird das die einzige Hilfestellung des heutigen Tages sein. Beflissen fangen die strebsamsten Schüler bereits an, die Überschrift zu notieren.
Hauptmann räuspert sich und fängt an zu diktieren: „Die Rrrrrrr.“ Er räuspert sich. Dann spricht er wieder: „Die Rrrrrrr.“ Jetzt hustet er ein lautes, verzweifeltes Hustengewitter, um seine Sprachblockade aus dem Hals zu fegen. Noch einmal, in Ruhe: „Die Rrrrrrr“ Nein, er wird seine Sprachstörung nicht los. Vielleicht hilft es, wenn er den Rest des Textes vorliest? Er probiert es, aber kein Wort außer ein paar gequälten „Rrrrrrr“ kommt über seine Lippen.
Peter glaubt nicht, was er da hört. Er schreibt es auf, schließlich ist das hier ein Diktat. Einer der Schüler hält es nicht mehr aus und prustet los. Jetzt gibt es kein Halten mehr – die Spannung entlädt sich in einem lauten Schülerlachen. Alle lachen mit, ungläubig zunächst, aber sie lachen. Lachen – in Deutsch, bei Hauptmann! Das hat noch keiner je erlebt, in 20 Jahren Schuldienst nicht! Hauptmann ist außer sich, sagt aber kein Wort – kein Rrrrrrr und auch kein richtiges. Eilig sammelt er die Diktate ein und stürzt aus der Klasse, so als ob er vor einer wahrhaftigen Räuberbande flieht.
Was für eine Blamage – der Lehrer eine Lachnummer und alle Schüler mit einer 1 im Diktat, denn so ein paar Rrrrrrrrs richtig hinzuschreiben, das kriegt jeder hin.
„Du ahnst es nicht, was heute in der Schule passiert ist!“ Peter ist noch ganz außer Atem, als er in der Bibliothek bei Heidi ankommt. In den buntesten Farben malt er die Wunder aus, die er heute erlebt hat. Er erzählt von den Kunststücken der sonst so ungelenken Frau Schuhmann und von den anderen Ereignissen historischen Ausmaßes: die penible Frau Biller hat die Aufgaben für den Test vergessen und bei Hauptmann wurde gelacht. Heidi hört zu und kichert an manchen Stellen. Die Erzählung gefällt ihr.
Bei all dem Trubel es heutigen Schultages hat Peter ganz vergessen, dass sie ja noch den Zauberspruch ausprobieren müssen. „Wollen wir nicht dafür nach draußen gehen?“, fragt Heidi. „OK“, sagt Peter cool, um seine Aufregung zu verbergen, schließlich zaubert er nicht alle Tage. Er geht durch die Tür nach draußen, auf die Wiese. Heidi nimmt die Abkürzung durch die Wand. Da stehen sie. Peter greift den Zettel, will anfangen, den Zauberspruch vorzulesen und ... hält inne.
„Moment, wir brauchen einen Zauberstab. Sonst funktioniert das bestimmt nicht.“ Klar – Peter, der mächtige Zauberer, wäre nicht komplett ohne einen Zauberstab. Für alle anderen Arbeiten braucht man schließlich auch ein Werkzeug. Er sieht sich um: ist da nicht irgendetwas, das zum Zauberstab taugt? Unter dem Baum nebenan liegt ein abgebrochener Zweig. Der wird reichen. Peter befreit ihn von den welken Blättern und setzt wieder zum Zaubern an. Doch halt, er stutzt abermals und sinkt in Fassungslosigkeit zusammen: „Wie kommt es eigentlich, dass du hier draußen stehst?“ Heidi kichert. Dann macht sie ein betrübtes Gesicht, fast hätte ihr Peter auch diese Betrübnis abgenommen, aber nur fast, denn Heidi ist ein Mädchen und die sind verschlagen! Heidi zieht wieder mit einem Fuß Kreise auf dem Boden. „Ach, weißt du, ich war doch schon so lange in der Bibliothek. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe eben den Zauberspruch ausprobiert. Und wie du siehst, hat er funktioniert! Ich danke dir für deine Hilfe!“ Und damit haucht Heidi einen Kuss auf Peters Wange. Alarm! Peter wurde geküsst! Er läuft angemessen rot an.
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