Dies sind die Eröffnungszeilen eines Tagebuches, das ich von 1918 bis 1921 mit bemerkenswerter Gewissenhaftigkeit führte. Das hübsche ledergebundene Büchlein wurde mir am 9. November 1918 als Geburtstagsgeschenk überreicht. (Der 9. November ist eigentlich Erikas Geburtstag; aber während unserer ganzen Kindheit feierten wir unsere Geburtstage zusammen, wie Zwillinge. In Wirklichkeit bin ich ein Jahr und neun Tage nach meiner Schwester geboren.)
Die nächste Eintragung, vom 11. November, lautet folgendermaßen: »Der Waffenstillstand ist unterzeichnet. Endlich Frieden! Aber was jetzt? Wir treiben einer Katastrophe entgegen. Die Schule hat wieder angefangen. Unser Professor wurde furchtbar wütend, weil so viel Lärm war und weil Deutschland mit seinen ruchlosen Feinden Frieden schließen muß. Gestern abend las Mielein uns eine sehr komische Geschichte von Gogol vor. Ich las das Trauerspiel ›Sühne‹ von Theodor Körner. Erbärmliches Zeug.«
Erstaunliches geschah. Unser Kaiser floh in Nacht und Nebel über die Grenze, nach Holland. Auch der große Ludendorff und andere Helden machten sich aus dem Staube. Es war alles sehr überraschend und nicht ganz leicht zu verstehen. Deutschland war geschlagen, und doch auch wieder nicht. Unser Professor sagte, es läge nur am »Dolchstoß«, für den die Juden und die Spartakisten verantwortlich seien. Die waren unserem Kaiser in den Rücken gefallen, gerade als alles zum besten stand und wir den Endsieg gleichsam schon in der Tasche hatten. Für den Professor gab es keine deutsche Niederlage, ebensowenig wie eine deutsche Republik. Auch diese war nur ein israelitisch-bolschewistischer Trick, teuflisch ersonnen, um das Vaterland endgültig in den Ruin zu treiben …
Etwas stimmte nicht mit dem Frieden; niemand schien sich seiner zu freuen, die Leute sahen eher noch verdrossener aus als während des Krieges. Auch der Schlagrahm, lang erhofftes Friedenssymbol, trat zunächst nicht in Erscheinung. Das Essen war im Winter 1918/19 mindestens ebenso schlecht wie während der letzten Kriegsjahre.
Und warum wurde immer noch so viel geschossen? Vor dem Waffenstillstand hatte man nur »draußen« gekämpft, im Schützengraben; jetzt aber knallte es in bedrohlicher Nähe.
Am 21. Februar 1919 wurde gerade um die Ecke von unserem Schulgebäude der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner erschossen. Meine Tagebuchnotizen, diesen Vorfall betreffend, zeichnen sich durch ein etwas unbeholfenes Pathos aus. Es heißt da, daß ich um den Ermordeten »bittere Tränen« vergossen hätte, eine Behauptung, die etwas übertrieben gewesen sein mag, aber kaum so völlig aus der Luft gegriffen, wie die Meinen vermuteten. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß gerade diese Aufzeichnung im Familienkreise bekannt wurde (ich hielt mein Tagebuch meist sorgfältig versteckt); aber ich erinnere mich, daß ich wegen der »bitteren Tränen« viel geneckt wurde. Was mich zu diesem rhetorisch-stilisierten Erguß veranlaßt hatte, war wohl nicht so sehr mein Kummer über Eisners Tod, wie mein Ekel vor dem Zynismus, mit dem die Münchener Spießer, einschließlich meine Lehrer und Klassengenossen, die Todesnachricht begrüßten. Der Ministerpräsident, ein salbungsvoller Intellektueller mit Schlapphut und Christusbart, war nicht populär gewesen; man freute sich, den »artfremden« Weltverbesserer und Menschheitsfreund los zu sein. Der Mörder, ein Kavalier aus dem gräflichen Hause Arco, wurde von den Massen als ein Held bejubelt, während dem Opfer nur von der radikalen Linken gehuldigt ward. Einer von Eisners Freunden, Heinrich Mann, schloß seine Grabrede mit der Bemerkung, daß der Tote den Ehrennamen eines »Zivilisationsliteraten« verdiene.
Das hektische Zwischenspiel der kommunistischen Diktatur in Bayern war eine unmittelbare Folge des Eisner-Mordes. In meiner Erinnerung wird diese kurzlebige »Räte-Republik« zur wüsten Farce. Ein grelles, klirrendes Tohuwabohu von schreienden Plakaten, Steinwürfen, Menschenansammlungen, improvisierten Rednertribünen, roten Fahnen und offenen Lastwagen voll verwegener Gestalten mit roten Armbinden. Die ganze Sache hatte einen Beigeschmack von wilder »Gaudi« (um den Münchener Dialektausdruck zu benutzen, der hier besonders am Platze scheint), etwas Unernstes, Karnevalistisches. Freilich ging es bei diesem exzessiven Fasching nicht ganz ohne Terror ab; alle respektablen Bürger gerieten in einen Zustand von hysterischer Panik. Man erzählte sich Schauriges über geplünderte Banken, vergewaltigte Frauen und mißhandelte Kinder. In unserer Nachbarschaft wurden die Villen nach illegalen Waffen durchsucht; die erschreckten Inhaber ergingen sich nachher in den phantasievollsten Beschreibungen all des Furchtbaren, das sie durchgemacht. Was erstaunlich schien, war vor allem die Tatsache, daß menschliche Wesen so viel Grauen überleben konnten. Unsere Nachbarsleute waren samt und sonders noch ganz gut beisammen, obwohl die Spartakus-Bestien ihnen doch so gräßlich mitgespielt hatten.
Unser Haus übrigens blieb von den Regierungstruppen verschont. Wir hielten es zunächst für einen glücklichen Zufall, erfuhren aber später, daß die Patrouille angewiesen war, das Heim Thomas Manns in Frieden zu lassen. Zwar machte das Haus einen verdächtig kapitalistischen Eindruck und die Gesinnungen des Hausherrn waren vom marxistischen Standpunkt durchaus nicht einwandfrei; aber die revolutionären Führer, die von ihren Gegnern als eine Bande blutrünstiger Vandalen hingestellt wurden, waren in Wirklichkeit Männer, die das Talent und die Integrität eines Schriftstellers respektierten, sogar wenn sie mit seinen politischen Ansichten nicht übereinstimmten. Viele dieser Amateur-Jacobiner beschäftigten sich im Neben- oder Hauptberuf mit Literatur. Ein Dichter und Enthusiast des Schönen wie Ernst Toller, der in der Räte-Republik eine Rolle spielte, hätte nicht zugelassen, daß man dem Autor der »Buddenbrooks« und des »Tod in Venedig« zu nahe trat.
Mein Tagebuch berichtet unter dem Datum des 13. April: »Am Morgen gab es Gerüchte, die bolschewistische Regierung sei gestürzt worden. Levin und Toller sollen geflohen sein. Levin, heißt es, hat eine halbe Million Mark mit in die Schweiz genommen. Erich Mühsam ist verhaftet worden. Ich ging vormittags ins Nationalmuseum, um mir die Sammlung mittelalterlicher Waffen noch einmal anzuschauen. Ziemlich interessant. Besser als Schule.«
Die Gerüchte waren verfrüht; die Roten hielten sich noch eine Weile. Unsere Stadt befand sich in einem regelrechten Belagerungszustand. Es kam zu ziemlich ernsthaften Schlachten zwischen der revolutionären Miliz und dem Freikorps des Generals Epp. Für uns bedeutete der Bürgerkrieg nur ein entferntes Donnerrollen, das unsere Spiele begleitete. »Vor dem Mittagessen spielten wir Deutschball und hörten dabei das Geräusch der Geschütze«, notiere ich mir am 2. Mai. »Die Roten und die Weißen kämpfen in der Nähe von Dachau. Später schauten wir uns das große Maschinengewehr an, das die Roten auf dem Kufsteiner Platz aufgestellt haben. Es gibt überhaupt kein Brot. Die Fanny hat statt dessen eine Art Fladen gemacht. Schmeckt ganz gut. Las eine schöne Geschichte von Walter Scott.«
Am 5. Mai, als die Truppen des Generals schon in die Stadt eingedrungen waren, ging ich aus, um mir ein Exemplar von Gogols Geschichte »Der Mantel« zu kaufen, und fand die Stadt »von Soldaten wimmelnd«. Drei Tage später wurde der Bürgerkrieg offiziell als beendet erklärt, und das tägliche Leben nahm seinen langweiligen Gang wieder auf. Aber überall gab es Erinnerungen an die blutigen Geschehnisse der letzten Wochen. Tagebucheintragungen vom 8. Mai 1919: »Wieder in der Schule – leider! Der Professor erzählt uns, daß ein sehr berühmtes Regiment im Wilhelmsgymnasium einquartiert gewesen ist – dieselben Soldaten, sagt er, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin umgebracht haben. Mir gefiel die Art nicht, wie er das sagte – als ob es etwas Schönes wäre. Vorgestern sind fünf Spartakisten in unserem Schulhof hingerichtet worden. Einer von ihnen war erst siebzehn. Er wollte sich die Augen nicht verbinden lassen. Der Professor sagt, das beweist, wie fanatisch er war. Aber ich finde es bewundernswert.«
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