Klaus Mann
Der Kaplan
Ein Drehbuch für
Roberto Rossellinis Filmklassiker Paisà
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Susanne Fritz
WALLSTEIN VERLAG
Vorwort
Klaus Mann The Chaplain / Der Kaplan
Fredric Kroll Der Kaplan: Klaus Manns Zusammenarbeit mit Roberto Rossellini am Film Paisà
Carlo Gentile Futa-Pass, Weihnachten 1944. Eine historische Situationsbeschreibung
Susanne Fritz »What are we fighting for?«
Georg Seeßlen Klaus Mann, Roberto Rossellini, das Opfer und der Krieg. Einige Steine für ein filmgeschichtliches Mosaik
Filmen im Kriegsgebiet. Hoffnungsmomente im Schrecken? Ein Gespräch mit Filmregisseur Didi Danquart
Bleibt in Krieg, Krise, Katastrophe die Kunst auf der Strecke – oder kann und muss sie neu erfunden werden? Ein Gespräch mit den Filmregisseurinnen Lucia Chiarla und Chiara Sambuchi
Friedrich Lohmann Menschenliebe im Krieg. Theologische und ethische Überlegungen zu Klaus Manns Drehbuch
Alberto Gualandi Apokalyptischer Humanismus. Macht und Ohnmacht der Vernunft in Klaus Manns letzten Werken
Fredric Kroll Klaus Manns The Last Day: Eine Einführung
Klaus Mann The Last Day
Beiträgerinnen und Beiträger
Impressum
Anfang August 1945, wenige Wochen vor seiner Entlassung aus der US Army, wohnt Klaus Mann in Rom einer Voraufführung von Roberto Rossellinis Roma città aperta vor geladenen Gästen bei und ist überaus angetan. An den folgenden Tagen kommt es zu intensiven Gesprächen und bald zu einer vertraglichen Übereinkunft, die für den deutsch-amerikanischen Schriftsteller eine leitende Position in Rossellinis Drehbuchteam vorsieht. Der unter dem Titel The Seven from the U. S. geplante Film soll die Befreiung Italiens von Faschismus und deutscher Besatzung durch die Alliierten von Süd nach Nord in sieben Episoden erzählen. Im fertigen Film, der als Paisà 1946 in die Kinos kommt, fehlt die vorletzte Episode (bzw. war während der Dreharbeiten ausgetauscht worden), zu der Klaus Mann das vollständige Drehbuch geschrieben hatte, sein Titel: The Chaplain, Der Kaplan.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Rossellini, seinem bereits erprobten Team und dem »Neuling« Klaus Mann, der als Exilant, glühender Antifaschist und einziger aktiver Kriegsteilnehmer Erfahrungen in die Arbeit einbrachte, die sich von denen seiner italienischen Kollegen in vielem unterschieden? Welche Gründe mögen im Einzelnen zum Bruch geführt haben? Fredric Kroll, der als junger Doktorand das Typoskript des Chaplain 1970 im Nachlass Klaus Manns in Zürich entdeckte, untersucht in seinem Beitrag die Geschichte einer vielversprechenden Begegnung zweier großer Künstler, deren Methoden und Sichtweisen sich als unvereinbar herausstellten, aber auch den unerbittlichen Konkurrenzkampf innerhalb des Drehbuchteams, in dessen Folge Klaus Manns Spuren aus dem Film getilgt wurden.
Bereits in seiner Literarizität erweist sich Der Kaplan als wenig »kompatibel« mit Rossellinis spontaner und improvisatorischer Arbeitsweise, mit der er seine sehr persönlich geprägten neorealistischen Spielfilme aus Versatzstücken der vorgefundenen Wirklichkeit schuf. Noch mehr aber unterschieden sich der Regisseur und der Schriftsteller in ihrem Blick auf die jüngste Geschichte. Der Katholik Rossellini inszenierte (verkürzt gesagt) das italienische Volk als Italiani brava gente und Opfer der deutschen Invasion und des furchtbaren Krieges auf italienischem Boden. Klaus Mann legte hingegen als Beobachter von außen den Finger in die Wunde und zeichnete ein komplexeres Bild, in dem ein Teil der italienischen Bevölkerung als Faschisten und Kollaborateure der Nazibesatzung am Elend des Zweiten Weltkriegs mitschuldig waren und die alliierten Befreier keinesfalls nur vorbildlich agierten. Sein Drehbuch um den amerikanischen Militärgeistlichen Martin , der in seiner Weihnachtspredigt vor der kämpfenden Truppe von der Feindesliebe spricht, und den faschistischen, die Hilfe der Amerikaner ablehnenden Jungen Ernesto fiel darum aus Rossellinis Gesamtkonzept und blieb ein Solitär, ein Außenseiter wie sein Autor selbst. Die gescheiterte Zusammenarbeit mit den Italienern, in die er sich mit großem Elan geworfen hatte, wurde so zu einem (weiteren) persönlichen Desaster, von dem er sich nur unzureichend erholen sollte.
Wie präsentiert man einen Text, der nicht dafür verfasst worden war, gedruckt zu werden, sondern vielmehr verfilmt? Der einerseits literarische Qualität besitzt und zweifellos für sich stehen könnte, zugleich aber auch erklärungsbedürftig bleibt, da er als eine Geschichte von mehreren Geschichten gedacht war, die aufeinander aufbauen und einander ergänzen sollten? Der dazu in einem historischen Kontext steht, der vielen von uns, die Italien lieben, doch eher unbekannt ist? Der am Futa-Pass zwischen Bologna und Florenz angesiedelt ist, in einer abgelegenen Gegend, wo neben der so atemberaubenden wie unwirtlichen Berglandschaft die größte deutsche Kriegsgräberstätte Italiens mit fast einunddreißigtausend Toten eine der wenigen »Touristenattraktionen« darstellt?
So werfen Klaus Manns Text, die Hintergründe seiner Entstehung und sein Schicksal als nicht realisiertes Filmskript Fragen auf, die eine nähere Betrachtung verdienen. Wir haben Autorinnen und Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher und künstlerischer Disziplinen um Antworten beziehungsweise Diskussionsbeiträge gebeten.
Der Historiker Carlo Gentile schildert die brutale, von Massakern an der italienischen Zivilbevölkerung begleitete deutsche Besetzung Italiens 1943–45 sowie den verlustreichen Vormarsch der Alliierten und setzt Klaus Manns persönliche Erfahrungen im nördlichen Apennin zu den wirklichkeitsnah geschilderten Ereignissen und Figuren des Drehbuchs in Zusammenhang. Seine aus dem Film eliminierte Episode, insbesondere die Figur des faschistischen Jugendlichen Ernesto, der von der alliierten Spionageabwehr erschossen wird, deutet Gentile als eine »erinnerungspolitische Leerstelle« im italienischen Gedächtnis.
Wie lässt sich ein militärisches Eingreifen »im Namen des Guten« rechtfertigen, das mit Blutvergießen und dem Tod zahlloser Unschuldiger einhergeht? Wie wird nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden gewonnen? Klaus Manns Weg vom Pazifisten zu einem Befürworter des bewaffneten Kampfes gegen Hitlerdeutschland »mit schlechtem Gewissen« beleuchtet der evangelische Theologe und Ethiker Friedrich Lohmann. In seinem Aufsatz stellt er die Positionen wichtiger Theologen vor, die um eine christliche Stellungnahme zur Bekämpfung der Gewalt mit Mitteln der Gewalt bis hin zu einer Rechtfertigung der Flächenbombardements deutscher und japanischer Städte ringen; eine seinerzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika mit einiger Heftigkeit geführte Debatte, die Klaus Mann mit großer Anteilnahme verfolgte und die ihn später zur Figur des protestantischen Militärkaplans Martin inspiriert haben könnte.
Wie kommt ein Mensch an den Punkt, sich für das »Böse« zu entscheiden? Alberto Gualandi nähert sich Klaus Mann als Philosoph und entdeckt dessen »apokalyptischen Humanismus«, ein Menschenbild, das ihm erlaubt, selbst seinen schlimmsten menschlichen wie politischen Gegnern auf einer tieferen Ebene zu verzeihen. Gualandi unterzieht u. a. die berühmten Romane Mephisto und Treffpunkt im Unendlichen einer philosophischen Analyse und zeigt eindrücklich, wie der Autor gerade auch seinen moralisch fragwürdigen Figuren wie Hendrik Höfgen und Ernesto mit kritischer Empathie folgt.
Mit Georg Seeßlen haben wir einen profilierten Cineasten um Lektüre des Kaplan gebeten, der in seinem Beitrag drei unterschiedlichen Darstellungsversuchen des alliierten Befreiungskampfes in Italien nachspürt. Neben Mann und Rossellini bringt er den amerikanischen Filmregisseur John Huston ins Spiel, dessen schonungsloser Dokumentarfilm The Battle of San Pietro unter Pazifismusverdacht fiel, ehe der Film mittels einer nachgedrehten Erklärung des Oberbefehlshabers der 5. Armee, General Mark W. Clark, eine Rechtfertigung des Kriegseinsatzes erhielt. Ist es überhaupt möglich, einen Anti-Kriegsfilm zu drehen, zeichnet sich eine solche Möglichkeit in einem fiktiven Dreieck Mann-Rossellini-Huston ab?
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