Klaus Mann - Der Wendepunkt
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Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht ist die zweite Autobiografie nach Kind dieser Zeit von Klaus Mann. Der Titel endet mit Klaus Manns Entscheidung zum Eintritt in die US Army. Der Titel bezieht sich auf Manns Ansicht, jeder Mensch habe an bestimmten Lebenspunkten die Möglichkeit, sich für das eine oder andere zu entscheiden und damit seinem Leben eine bestimmende Wendung zu geben. In seinem Leben war das die Wandlung vom ästhetisch-verspielten zum politisch engagierten Schriftsteller.
#wenigeristmehrbuch
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Der Wendepunkt
Klaus Mann
Meiner Mutter
und meiner
Schwester Erika gewidmet
This, then, is life: here is what has come to the surface after so many throes and convulsions … How curious! how real!
Walt Whitman
Il y a dans tout aveu profond plus d'éloquence et d'enseignement qu'on ne peut croire tout d'abord.
André Gide
Wer spricht von siegen? Überstehn ist alles.
Rainer Maria Rilke
Prolog
Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen Abenteuer und Leidenschaften haben unser Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller Züge und Tendenzen, aus denen unser Charakter sich zusammensetzt?
Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewußtsein es wahrhaben will. Niemand, nichts ist zusammenhangslos. Ein umfassender Rhythmus bestimmt unsere Gedanken und Handlungen; unsere Schicksalskurve ist Teil eines gewaltigen Mosaiks, das durch Jahrhunderte hindurch dieselben uralten Figuren prägt und variiert. Jede unserer Gesten wiederholt einen urväterlichen Ritus und antizipiert zugleich die Gebärden künftiger Geschlechter; noch die einsamste Erfahrung unseres Herzens ist die Vorwegnahme oder das Echo vergangener oder kommender Passionen.
Es ist ein langes Suchen und Wandern: wir mögen es zurückverfolgen bis ins fahle Zwielicht der Höhle, des barbarischen Tempels. Das blutige Zeremoniell der Darbringung geht weiter in unseren Träumen; in unserem Unterbewußtsein widerhallen die Schreie vom primitiven Altar, und die Flamme, die das Opfer verzehrt, sendet noch immer ihre flackernden Lichter. Die atavistischen Tabus und inzestuösen Impulse früher Generationen bleiben in uns lebendig; die tiefste Schicht unseres Wesens büßt für die Schuld der Ahnen; unsere Herzen tragen die Last vergessenen Kummers und vergangener Qual.
Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut? Unter meinen nordischen Vorfahren mag es Piraten gegeben haben, deren Rastlosigkeit in mir weiterlebt. Welche meiner Schwächen und Laster verdanke ich einem hanseatischen Urgroßvater – Kapitän, Handelsmann der Richter –, dessen Namen ich nie kennen werde? Was ich für mein persönlichstes Drama hielt, ist vielleicht nur die Fortsetzung von Tragödien, die sich einst in der stickigen Gemütlichkeit eines norddeutschen Patrizierhauses abgespielt haben – weit weg, irgendwo am Gestade der Ostsee.
Eine würdig-idyllische Kleinstadt mit engen Gassen und grauen, giebeligen Häusern: beginnt hier die Geschichte? Ich habe nichts mit dieser Stadt zu tun, noch verlangt es mich, sie jemals zu besuchen. Und doch würde ich nicht existieren ohne einen gewissen Senator Heinrich Mann, hochrespektablen Bürger der Freien Hansastadt Lübeck, aber eben doch nicht mehr völlig hochrespektabel, schon ein wenig exzentrisch. Ein Lübecker Patrizier, der wirklich zur Gänze comme il faut ist, sucht sich seine Lebensgefährtin unter den Töchtern der Stadt und wählt nicht eine junge Dame aus dem fernen Brasilien, wie der Senator es tat. Sie war das Kind eines deutschen Kaufmanns und einer Eingeborenen. Daß sie als kleines Mädchen den Ozean auf einem Segelschiff überqueren mußte, um nach Lübeck zu gelangen, schien mir das aufregendste Detail ihrer Geschichte. Denn dort, in der nördlichen Fremde, genoß sie eine durchaus »feine«, bedauerlich unromantische Erziehung und bewegte sich bald ganz natürlich unter den blonden Gespielinnen. Doch blieb es reizend, sich den Großpapa vorzustellen – den ich übrigens in Wirklichkeit nie gesehen hatte –, wie er mit seiner exotischen Braut zur Kirche fuhr. Der Senator, sehr stattlich und distinguiert, mit Backenbart, hohem Stehkragen, lehnt, ein wenig befangen, im Fond der prächtigen Kutsche, den er mit ihr teilt. Sie, das dunkle Köpfchen an ihn geschmiegt, darf hinter geschlossenen Lidern noch einmal die Palmen und bunten Vögel ihrer brasilianischen Heimat sehen, während der Wagen, vorbei an viel altem Gemäuer und majestätisch ragenden Türmen, den Weg zum Altar nimmt.
Frau Julia schenkte dem Senator fünf Kinder, zwei Töchter und drei Knaben. Die beiden älteren Söhne hießen Heinrich und Thomas.
Das Mannsche Haus gehörte zu den feinsten der Stadt. Man speiste vorzüglich dort, auch die Weine ließen nichts zu wünschen übrig. Die Familie erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, obwohl sie letzthin so viel Pech gehabt hatte, daß es beinah anstößig wirkte. Die Schwester des Senators, Elisabeth, ließ sich von ihrem süddeutschen Gatten scheiden und kam auch mit ihrem zweiten Gemahl nicht aus; noch problematischer stand es um einen Bruder, meinen Großonkel Friedel, einen neurotischen Tunichtgut, der sich in der Welt herumtrieb und über eingebildete Krankheiten klagte. Was aber die schöne Frau Senator betraf, so ließ sich nicht leugnen, daß sie unter den Damen der bourgeoisen Aristokratie oft ein wenig fehl am Platze wirkte. Nicht als ob an ihrem Lebenswandel etwas auszusetzen gewesen wäre! Man fand sie nur ein bißchen zu »originell«. Es lag wohl an der exotischen Herkunft. In Lübeck paßt es sich nicht, so dunkle Augen zu haben wie Frau Julia Mann; Schmelz und Feuer ihres Blickes hatten schon den Stich ins Skandalöse. Sie spielte Klavier, gerade ein wenig zu gut für eine Dame in ihrer Stellung, und sang fremdländische Lieder, die lieblich, aber auch verfänglich klangen: nur gut, daß man den Text nicht verstand … Die beiden Söhne, Heinrich und Thomas, wären gewiß viel lustiger und strammer geworden, hätten sie eine Mama von gutem nordischem Schlage gehabt, an Stelle der übertrieben pikanten Brasilianerin. Mit den beiden Jungen war nicht viel Staat zu machen; in der Schule fielen sie durch Aufsässigkeit und Faulheit auf, was verzeihlich gewesen wäre, wenn sie sich wenigstens sportlich hervorgetan hätten. Gerade auf diesem Gebiet aber waren sie komplette Versager. Es ging das Gerücht, daß sie sich mit Literatur beschäftigten. Der Herr Senator konnte einem leid tun! Kein Wunder, daß er oft so nervös und deprimiert erschien.
Offenbar stand auch mit seiner Getreidefirma nicht alles zum besten. Senator Mann war wohl nicht mehr ganz so tüchtig und energisch, wie seine Vorfahren es zu sein pflegten. Ein sehr feiner Herr, ohne Frage; vielleicht etwas zu fein, zu sensitiv, zu wählerisch, um es mit der derberen Konkurrenz aufnehmen zu können. Als er starb, ganz plötzlich, stellte sich heraus, daß das Vermögen der Familie beinah völlig dahingeschmolzen war. Die alte Firma wurde aufgelöst; Frau Julia verließ Lübeck, wo sie sich immer als Fremde gefühlt hatte. Es war das freiere, südlichere München, welches sie sich nun als Aufenthaltsort wählte. Sie ließ sich dort mit den drei jüngeren Kindern nieder; Heinrich und Thomas folgten, nachdem sie sich irgendwie durch die Schule gemogelt hatten. Jetzt waren sie endlich frei, zwei unabhängige junge Leute im Besitz einer bescheidenen Rente und einer Fülle von melancholischem Humor, Beobachtungsgabe, Gefühl und Phantasie. Beide waren seit längerem entschlossen, sich ganz der Literatur zu widmen, Schriftsteller zu werden.
Sie waren einander sehr ähnlich und doch grundverschieden; ihre Charaktere und ihre Träume schienen kontrastierende Variationen des gleichen Themas zu sein. Das Leitmotiv, das sie gemeinsam hatten und unablässig abwandelten, war das Problem der gemischten Rasse, die schmerzlich-stimulierende Spannung zwischen dem nordisch-germanischen und dem südlich-lateinischen Erbe in ihrem Blut.
Aus diesem primären Konflikt entsprang ihnen ein zweiter, der Antagonismus zwischen »Bürger« und »Künstler«: auf der einen Seite der Typ des gewöhnlichen und robusten Durchschnittsmenschen; auf der anderen der Entwurzelte, Gespaltene, von des Gedankens Blässe Angekränkelte – Hamlet, der Intellektuelle. Die Beziehung zwischen den beiden ist problematisch, doppeldeutig, geladen mit ambivalentem Gefühl. Eine recht eigentlich erotische Beziehung, wenn man Eros, im Sinne des Sokrates, als den Dämon der unstillbaren Sehnsucht, des dialektischen Spieles versteht. Der »Bürger«, das heißt der normale Mann, der sich wohlfühlt in seiner Haut und in dieser Welt, ehrt und bewundert (wenngleich niemals ganz ohne mißtrauische Reserve) die »Macht des Geistes«, die »erhabenen Ideale«, die »reine Schönheit der Kunst«, all jene sublimen Produkte moralischer Fragwürdigkeit, leidvollen Dienstes, stolz verborgener Qual. Der kreative Typ seinerseits empfindet eine seltsame Mischung aus Verachtung und Neid angesichts von so viel ahnungsloser Unschuld. Wie leicht, denkt er, muß das Leben sein für jene, die keinen Traum, keine Sendung haben! Glückliche Toren – sie wissen nichts vom Fluch der schöpferischen Manie, vom Martyrium der Auserwähltheit! Wie glatt und leer ihre Gesichter sind, wie hübsch, ach, wie verlockend! Wäre man doch wie sie! … Möchte man es wirklich? Würde man mit ihnen tauschen?
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