1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Ein zweiter Großvater war undenkbar; Ofey vereinigte alle Charakteristiken und Würden der Großvatergattung in seiner pittoresken und dynamischen Persönlichkeit. Aber Offi hatte eine Rivalin in Omama – der zweiten, und auch etwas zweitklassigen, Repräsentantin des großmütterlichen Mythos. Denn im Gegensatz zu der brillanten Selbstbewußtheit und Eleganz von Mieleins schöner Mama wirkte die alte Senatorin Mann glanzlos und bescheiden.
Eine bleiche, aschgraue Färbung eignete ihrer Stimme, ihrem Teint, ihren Kleidern, ihrer schlichten Wohnung und selbst ihrer ängstlichen Rede. Immer schien sie gequält von abergläubischen Ahnungen und hypochondrischen Sorgen. Wenn wir in ihrer überfüllten Stube den Tee nahmen, was drei- oder viermal im Laufe des Jahres geschah, verabreichte sie uns Berge von staubigem Gebäck und, gleichsam als obligatorische Dreingabe, große Dosen doppelkohlensauren Natrons. Dabei unterhielt sie uns mit schaurigen Geschichten über scheinbar harmlose Krankheiten, die sich ganz plötzlich als unheilbar herausstellen konnten; über »kalte Blitze«, die in Form von durchsichtigen Kugeln auftreten und zunächst ganz reizend anzusehen sind, wenn sie vom Dache abwärts durchs Haus schweben, von Stockwerk zu Stockwerk, bis sie den Keller erreichen, wo sie explodieren und alles verwüsten; oder über Kinder, die die Angewohnheit hatten, häßliche Gesichter zu schneiden und gerade dabei waren, sich eine neue, besonders abscheuliche Grimasse einzuüben, als die Uhr schlug – woraufhin ihre Züge für immer verzerrt blieben.
Wir wußten die Geschichten zu schätzen wie auch die etwas fahlen Leckereien und das heilsame Natron. Auf ihre schlichtere Art, so empfanden wir, war Omama eine fast ebenso vorzügliche Ahnfrau wie Offi.
Beide Großmütter – so unendlich verschieden voneinander – wurden von grausamen Schicksalsschlägen getroffen, die sich seltsam ähnelten und übrigens beinahe gleichzeitig eintrafen, wenn auch ohne ursächlichen Zusammenhang. Trotzdem werden die beiden Tragödien in meinem Gedächtnis stets aufs engste miteinander verbunden bleiben – eine doppelte Heimsuchung, die unserer sonst eher heiteren Familienchronik eine Nuance des Düster-Schrecklichen gibt.
Die Persönlichkeiten der beiden Opfer sind in meiner Erinnerung ganz verblaßt. Ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich Mieleins ältesten Bruder, den Onkel Erik, jemals mit eigenen Augen gesehen habe, ehe er sich nach dem fernen Land Argentinien einschiffte, wo er den Tod finden sollte, diesen exotischen, wilden Tod in der Prärie, in der Wüste. Auch Tante Carla, Omamas jüngste Tochter, habe ich kaum gekannt. Man erzählte uns von ihr, sie sei plötzlich einem Herzschlag erlegen. Von Onkel Erik hieß es, er sei »vom Pferde gestürzt«. Das paßte gut zu der Photographie, die auf Mieleins Schreibtisch stand und den Onkel im Reitkostüm auf einem Schimmel zeigte. Seine Miene war energisch und etwas übellaunig – ein rechtes Reitergesicht –, während die arme Tante Carla immer lächelte. Ihr Porträt schmückte das väterliche Arbeitszimmer. Sie hielt das lächelnde Gesicht über einen Blumenstrauß geneigt, dessen Parfüm sehr stark und sehr bezaubernd sein mußte. Das schöne Antlitz der Tante mit den schweren, halbgeschlossenen Augenlidern und den geöffneten Lippen sah aus, als sei sie im Begriffe, vor Wonne in Ohnmacht zu fallen.
Das Drama in Argentinien ereignete sich vor der makabren Szene, der Omama im eigenen Hause beiwohnen mußte; es mag sogar sein, daß Eriks Tod einige Monate oder ein Jahr vor Carlas Selbstmord stattfand. Aber die chronologischen Details sind nebensächlich; in meiner Erinnerung fließen die beiden Katastrophen ineinander. Ich höre den Aufschrei der Offi: »Mein Erik! Mein Sohn! Mein Reitersmann! Ermordet – von einem Pferde –! Verblutet im fernen Land Argentinien!« – ein Ausbruch, bei dem ich natürlich in Wirklichkeit nicht zugegen war, aber den ich mir so oft und so intensiv vorstellte, daß er schließlich für mich zur Realität wurde. Und während Offis theatralisches Wehklagen das Haus in der Arcisstraße erfüllte, schallte aus einer trübseligen Mietswohnung gerade um die Ecke Omamas herzzerbrechende Klage. »Carla! O Carla!« seufzt Omama. »Erik! O Erik!« gellt Offis Ruf.
Schließlich verlassen die beiden trauernden Mütter ihre Behausungen, getrieben von ihrem Jammer und von dem verständlichen Wunsch, der schwesterlichen Nachbarin das furchtbare Ereignis mitzuteilen. Von schwarzen Schleiern umweht, mit schwarzen Handschuhen, schwarzem Regenschirm und der schwarzumrandeten Depesche winkend, eilen sie tragisch beflügelten Ganges die Straße hinunter, jede nähert sich hastig dem Logis der anderen. Sie begegnen sich genau auf halbem Wege zwischen ihren Häusern, ja, sie stoßen beinahe zusammen, rennen einander fast über den Haufen. Beide blind vor Kummer und natürlicher Kurzsichtigkeit.
»O Julie, Liebste!« ruft Offi. »Welch ein Trost, dich zu sehen! Du wirst nie erraten, was mir soeben widerfahren ist!«
» Dir ?« fragt Omama atemlos, nicht ganz ohne Pikiertheit. »Wovon sprichst du, Hedwig, Liebste? Schließlich war Carla mein Kind!«
Das Mißverständnis zieht sich eine Weile hin und produziert Effekte von grauser Komik. Schließlich verstehen sie einander und brechen in erneute, verdoppelte Klagen aus. Die zwei kummervollen Matronen, die hehre Offi und die demütige Omama, umarmen sich, vereint in Schmerz und Verlust.
»Meine betroffene Schwester!« flüstert die eine der anderen ins Ohr. Ihre Tränen und Trauerschleier fließen ineinander, da sie in verzweifelter Zärtlichkeit umklammert stehen. Unversehens, ganz in ihr Leid vertieft, sind sie auf einen der Marmorsockel gestiegen, deren es in der Kunststadt München so viele gibt. Von einem steinernen Helden aus dem Hause Wittelsbach ritterlich bewacht, stehen die beiden, ihrerseits versteinert, mitten auf dem Karolinenplatz, eine zweiköpfige Niobe von schwarzem Crêpe umwallt, ein Doppelmonument der Verzweiflung.
Habe ich jemals den Geschichten Glauben geschenkt, die uns über den jähen Tod unserer Verwandten erzählt wurden. Dies ist eine heikle Frage, die uns tief hinein ins Labyrinth der kindlichen Psyche führt, einer Psyche, in der Leichtgläubigkeit und Skepsis so wunderlich nahe beieinander wohnen. Nein, es kam mir wohl nicht in den Sinn, die »Bearbeitung für die Jugend«, in der das Familiendrama uns präsentiert wurde, eigentlich anzuzweifeln, was aber keineswegs sagen will, daß ich diese schonende Version wirklich glaubte . »Glauben« setzt einen positiven Impuls voraus, ist eine Handlung, etwas, das man bewußt und vorsätzlich tut; »Nicht-Bezweifeln« ist ein Negativum, Ausdruck einer passiven Haltung, ein Verzicht eher als eine Aktion. Man unterläßt es, vielleicht nur aus Trägheit oder aus Höflichkeit, der Wahrheit nachzuforschen, oder vielleicht einfach, weil man fühlt, daß es nicht gut wäre, alles zu wissen .
Kinder, bis zu einem gewissen Alter, sind höflich und behutsam. Ihre instinktive Neugier wird durch die ebenso instinktive Ahnung in Zaum gehalten, daß die Wahrheit störend, ja unter Umständen verderblich sein kann. Außerdem wäre es peinlich, die Erwachsenen auf Lügen zu ertappen. Lieber »glaubt« man weiter ans Christkind, das am Weihnachtsabend emsig die Geschenke verteilt, an den Klapperstorch, der die Babies bringt, und an das wilde Pferd, von dessen Rücken der arme Onkel Erik sich zu Tode stürzte.
Indessen unterschieden wir doch, wenn auch nur unbewußt, zwischen unbedenklichen Geschichten, bei denen man gern verweilte und die man sich immer wieder erzählen ließ, und jenen unheimlich vagen, schaurig ungenauen Überlieferungen, die man besser nicht zu oft erwähnte. Omamas große Erzählung vom »kalten Blitz», der durch die Decke schwebte, war phantastisch, aber doch plausibel: die schillernde Kugel (wir stellten sie uns wie eine besonders wohlgeratene Seifenblase vor) und die Explosion im Keller gaben stets ein anheimelnd-grusliges Gesprächsthema ab. Aber wenn die liebe Alte von dem Herzschlag sprach, dem unsere Tante Carla angeblich erlegen war, dann klangen ihre Worte irgendwie hohl und unzulänglich, und uns Kindern wurde bang zumut.
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