Und wieder schloss die Gräfin die Augen. Diesmal für immer. Der Kopf drehte sich langsam zur Seite, ganz sacht. Der letzte Atemzug war getan, der letzte Hauch von Leben verließ lautlos den kranken Körper, verlor sich aufgelöst im Krankenzimmer. Und aus dem Piepton wurde ein durchgängiges Piepen. Grell und hässlich.
»Mami??? ... Nein, ... bitte bleib !«
Laura schrie und sprang dabei auf. Mit weit aufgerissenen Augen, verweint und trostlos, blickte sie auf die schreckliche Endgültigkeit des Todes.
Augenblicklich kam der Arzt hereingesprungen, sah die Gräfin an, begriff sofort und schaltete den Piepton aus.
Routinemäßig horchte er die Patientin ein letztes Mal ab, sah alsdann die Komtess an ... und schüttelte den Kopf. Taktvoll legte er Laura die Hand auf die Schulter, verharrte einen Moment und verließ stumm und lautlos das Zimmer.
Laura sah ihre Mutter an und konnte es nicht begreifen. Sie war tot! ... Tot!
Nachdem sie noch fast eine halbe Stunde am Totenbett ihrer Mutter gesessen und Abschied genommen hatte, verließ Laura das Krankenhaus. Dr. Berg hatte im Gang, zurückhaltend und mitfühlend auf die Komtess gewartet.
Nun stützte er sie fast väterlich. Der Arzt hatte ihm durch ein unmerkliches Kopfschütteln die traurige Nachricht verkündet.
Schwierige Aufgaben warteten jetzt auf Laura Komtess von Heimenstein. Und dabei schien es ihr, als hätte sie doch eben all ihre Kraft verbraucht.
Martha war gerade mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt, als das Auto von Dr. Berg langsam auf den Hof fuhr. Rasch ließ sie die Kartoffel und das Schälmesser fallen, trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab und lief aus der Küche zur Eingangstür des Gutshauses. Ihre Laura war zurück. Endlich. Nach drei Jahren. Aber das war jetzt nicht wichtig. Sie wusste, dass Dr. Berg Laura holen wollte, aber sie wusste noch nicht, dass die Gräfin vor einer Stunde verstorben war.
Sie erschrak, als sie das verweinte Gesicht der Komtess erblickte. Lauras langes blondes Haar lag ungeordnet, ihre großen braunen Augen waren stumpf, ihr sonst so hübsches Gesicht, sah müde aus und abgespannt.
»Was ist passiert, meine Kleine?«
Laura blieb ohne Antwort. Eine Träne lief ihr über die Wange. Martha schien zu verstehen, wollte diesen Gedanken aber noch nicht glauben. Und so blickte sie von Laura zu Dr. Berg.
»Wir kommen gerade aus dem Krankenhaus ...«
Dr. Berg musste nicht weitersprechen, Martha wusste nun Bescheid. Die Endgültigkeit war nun auch für sie bittere Tatsache. Das Hoffen war sinnlos geworden, das Hoffen hatte ein Ende. Der Tod hatte gesiegt.
Gefühlvoll, ihre eigene Trauer unterdrückend, nahm Martha Laura in den Arm und versuchte, Trost zu spenden. Laura ließ es geschehen.
Einige Momente später, sich langsam dem bemutternden Trost entziehend, kamen Laura die letzten Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn ... Und denke an deinen Vater .
Rasch rutschte sie aus Marthas Umarmung und blickte sie an. Voller Sorge.
»Wo ist Papa?«
»Oben. In seinem Lesezimmer. Aber vielleicht sollten wir noch warten«, sagte Matha mit verzagter Stimme.
Worauf warten? Der Tod war unumkehrbar. Endgültig.
»Wir müssen es ihm sagen.« Lauras Worte waren voller Angst. »Wie geht es ihm überhaupt?«
Martha blickte bedrückt zu Boden.
»Sein Zustand hat sich in den letzten Jahren leider nicht verbessert, eher ... verschlechtert. Er hat jetzt fast täglich gedankliche Aussetzer.«
Marthas Worte klangen leise und vorsichtig. Offensichtlich wollte sie Laura nicht noch einen zweiten Tiefschlag versetzen, nicht heute - aber ganz ohne die Wahrheit ging es nicht. Auch heute nicht.
Laura nickte, atmete tief ein und sah sich beiläufig um. Es schien, als hätte sich nichts verändert. Warum auch? Der gräfliche Gutshof war über zweihundert Jahre alt und so etwas verändert sich nicht, nicht offensichtlich, nicht in drei Jahren. Hier und dort waren alte Fenster und Türen durch neue ersetzt worden. Ihre Mutter hatte stets versucht, den Charakter der Ursprünglichkeit zu bewahren. Durch ihre sorgfältige Haushaltsführung, durch ihr kaufmännisches Geschick konnte man es sich leisten, die Originalität aufrechtzuerhalten.
Wie würde das jetzt alles weiter gehen?
Selbstverständlich kannte Laura die einzig mögliche Antwort. Aber war sie bereit dafür? Konnte sie das überhaupt? Ein Gut führen.
Sie atmete tief durch. Heute Morgen war ihre Welt noch vom Kaufhaus, von der morgigen Lesung bestimmt. Sie war aufgeregt gewesen, nervös, aber was für eine Aufgabe begegnete ihr hier ... und jetzt?
»Wollen wir gemeinsam zu ihm gehen?«, fragte sie schließlich sowohl Martha als auch Dr. Berg.
Martha nickte. Und Dr. Berg erwiderte spontan: »Gewiss, wenn Sie es möchten, Komtess.«
Wie es schien, war er tatsächlich der Freund, als den ihn ihre Mutter beschrieben hatte. Das beruhigte Laura.
Gemeinsam gingen sie die breite geschwungene Treppe in die erste Etage hinauf und betraten das Zimmer ihres Vaters, des Grafen von Heimenstein, der in einem Buch las. Und sie überbrachten ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau. Sie hatten einen schlechten Moment erwischt, er konnte sich nicht an seine Frau erinnern.
Auch Laura, seine Tochter, war ihm fremd. Und ohne sich weiter um die Anwesenden zu kümmern, blätterte er hastig vier Seiten zurück und las unnatürlich angestrengt den Text vielleicht ein zweites oder drittes Mal.
Als Laura in Begleitung von Martha und Dr. Berg das Zimmer wieder verließ, hatte sie das Gefühl, völlig allein zu sein. Ohne Eltern. Geschwister hatte sie nicht. Und irgendwelche Verwandten lebten nicht in der Nähe. Und sie bekam Angst. Ihr wurde kalt.
Martha, die nun seit über dreißig Jahre die Haushälterin des Guts war, die Laura bereits als Baby mitversorgt hatte, spürte das Unwohlsein der jungen Frau.
»Wir schaffen das schon, meine Kleine«, sagte sie und drückte die junge Frau fest an sich. Laura genoss es für einen kurzen Moment. Doch sie wusste genau, dass ihr schwere Tage bevorstanden.
Sehr schwere Tage.
Zur Beisetzung der Gräfin Ilona von Heimenstein waren alle gekommen. Verwandte, Bekannte, der Bürgermeister und die Bewohner von Heimenstein. Bedeutungsvolle Worte wurden gesprochen, aufrichtige Beileidsbekundungen zum Ausdruck gebracht, Mitgefühl bekundet und Hilfe an geboten. Doch was die Komtess innerlich bewegte, blieb den Anwesenden verborgen.
Laura ließ die Beisetzungszeremonie über sich ergehen. Sie achtete auf ihren Vater, der in der Zwischenzeit zwar einige klare Momente gehabt hat, aber jetzt offensichtlich doch nicht so recht begriff, was um ihn herum geschah. Harald Graf von Heimenstein hatte sich bei seiner Tochter untergehakt und doch war nicht erkennbar, wer wen stützte.
»Ich werde meinen Vater nach Hause bringen. Martha, könntest du dich um alles Weitere hier kümmern?«, fragte Laura, nachdem die Beisetzung beendet war.
»Selbstverständlich. Geh nur«, antwortete Martha knapp.
Man hatte in Heimenstein, im Café ›Mozart‹, zu einem Kaffeetrinken geladen. Laura fühlte sich nicht in der Lage, daran teilzunehmen. Und ihrem Vater wollte sie den Trubel nicht zumuten.
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«, fragte Dr. Berg, der die ganze Zeit stumm, in angemessener Entfernung, hinter der Komtess gestanden hatte.
»Herzlichen Dank, aber das ist nicht nötig. Außerdem bin ich mit dem Wagen meiner Eltern hier.«
»Wenn Sie mir aber kurz noch gestatten, Komtess, möchte ich Ihnen gern meinen Sohn vorstellen. Er wird sich in Zukunft um ihre Angelegenheiten kümmern.
Wann immer sie eine Auskunft benötigen, er wird für Sie da sein«, sagte Dr. Berg und fügte sogleich hinzu: »Unnötig zu sagen, dass ich Ihnen selbstverständlich auch weiterhin zur Verfügung. Jederzeit. Wenn Sie es wünschen.«
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