Dr. Berg schüttelte dezent den Kopf.
Und noch bevor Laura etwas sagen konnte, stand plötzlich der Direktor des Kaufhauses neben ihr. Er hatte durch die beiden Mitarbeiterinnen der Buchabteilung mitbekommen, dass es hier einen Besucher aus Lauras Vergangenheit gab.
Er und der Personalchef waren die Einzige, die wussten, dass Laura von Heimenstein eine Komtess war. Beim Einstellungsgespräch hatte sie darum gebeten, ihren Titel verschweigen zu dürfen. Die beiden Männer hatten ihren Wunsch respektiert. Ihr starkes Engagement – ohne ihren Titel - beeindruckten sie schließlich sehr.
Der Direktor schien sehen zu wollen, ob alles in Ordnung war. Als er Lauras blassen Gesichtsausdruck vernahm, war ihm klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
»Was ist los, Frau von Heimenstein?«
Seine Stimme klang voller Unruhe und Aufmerksamkeit.
Laura erzählte. In kurzen Worten. Lungenkrebs! Endstadium! Und endlich ... endlich! ... ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie begann zu weinen, bitterlich zu weinen, sah die beiden Männer mit tränengefüllten Augen an und war augenblicklich nur noch das kleine Mädchen - voll Angst um das Leben der Mutter.
Der Direktor begriff sofort.
»Sie können nicht bleiben. Ihre Mutter, Ihr Vater, sie brauchen Sie.«
»Aber wir haben doch morgen die Lesung!?«
»Lassen Sie das nur unsere Sorge sein. Sie müssen sich jetzt um Ihre Mutter kümmern. Und wenn sie alles erledigt haben, dann melden Sie sich bitte noch einmal bei mir.«
Dem Direktor schien klar zu sein, dass Laura von Heimenstein nicht mehr in sein Kaufhaus zurückkehren würde. Aber sie hatte frischen Wind in diese Abteilung gebracht und dafür war er ihr dankbar.
Laura sah den Direktor an und schien für einen Moment erleichtert. »Ich danke Ihnen.«
Und an Dr. Berg gerichtet sagte sie: »Ich packe hier schnell zusammen und dann müssen wir eben noch in mein Appartement, ich brauche ein paar Sachen.«
Dr. Berg nickte. Er war einverstanden. Und auch erleichtert.
»Ich warte draußen auf Sie, Komtess.«
Rasch hatte Laura ihre Sachen zusammengepackt, war mit Dr. Berg in ihr Appartement gefahren, hatte sich dort umgezogen, eine Reisetasche gepackt, sich noch einmal in der Wohnung umgesehen und war dann schon auf dem Weg zu ihrer Mutter.
Nahezu wortlos saßen sie die drei Stunden im Auto nebeneinander, Laura von Heimenstein und Dr. Berg.
Von Minute zu Minute wurde die junge Frau unruhiger, als ihr ein Gedanke durch den Kopf ging. Sie blickte kurz zu Dr. Berg hinüber, der konzentriert hinter dem Lenkrad saß, und sah dann auch wieder nach vorn.
»Woher wussten Sie, wo Sie mich finden würden?«
Dr. Berg zögerte.
»Ein Privatdetektiv ... Letzten Samstagabend kam er mit der Nachricht, dass er sie wohl gefunden hat. Er war sich zu fünfundneunzig Prozent sicher.«
Laura von Heimenstein nickte, sie hatte verstanden ... ein Privatdetektiv. Was für ein Aufwand!
Bäume, Felder und Ortschaften ließ sie an sich vorbeigleiten, blicklos und stumm. Ihre Mutter war krank. Schwerkrank.
Würde Laura sie noch einmal in den Arm nehmen können?
Nachdem Dr. Berg die Autobahn verlassen hatte, saß Laura noch immer gedankenversunken auf dem Beifahrersitz und nahm nichts von der heimatlichen Landschaft wahr. Ihr Herz wollte nicht aufgehen, sie dachte an ihre Mutter, an die schreckliche Krankheit und an das scheinbar Unvermeidliche, an den Tod. Und sie wollte es noch immer nicht wahrhaben.
Als sie das Krankenhaus endlich erreicht hatten, folgte Laura dem Anwalt ihrer Eltern, der den Weg gut kannte. Der Geruch von Nüchternheit, Mullbinden und Pfefferminztee ließ alles in ihr erstarren. Die erschütternden Worte ... Lungenkrebs! ... Endstadium! ... wurden zögerlich zur Realität. Zu einer schrecklichen Realität.
»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte Dr. Berg, nachdem sie die richtige Abteilung erreicht hatten und den zuständigen Arzt in seinem Zimmer antrafen. »Darf ich Ihnen Laura Komtess von Heimenstein vorstellen!«
»Gut, dass Sie endlich da sind. Ich fürchte, es geht zu Ende.«
Die Worte des Arztes klangen schonungslos. Ohne Umschweife. Was für ein Holzklotz. Obendrein war er erstaunt, dass die Gräfin es noch so lange geschafft hatte, dass sie noch lebte - doch behielt er das für sich.
»Würden Sie mich bitte zu ihr bringen.«
Lauras Worte klangen beherrscht. Sie wollte keine Zeit mehr verlieren.
Der Arzt nickte und ging vor.
Gemeinsam durchschritten sie einen langen, hellerleuchteten Gang, bis sie an eine Glastür ankamen.
Schon von außen konnte Laura ihre Mutter sehen. Angeschlossen an unzählige Apparaturen lag sie reglos mit geschlossenen Augen in ihrem Krankenbett.
Verhalten öffnete Laura die Tür und betrat das Krankenzimmer ... das Sterbezimmer ihrer Mutter. Der Arzt wendete sich ab und ließ die Komtess mit ihrer Mutter allein.
Laura blieb einen Moment stehen und betrachtete schmerzvoll ihre Mutter. Sie schluckte trocken, Tränen drückten. Es war nicht viel übrig von dieser starken und lebensbejahenden Frau.
Die Stille im Zimmer wurde nur durch den ruhigen und langsamen Herzschlag, der über den Lautsprecher eines Computers hörbar war, unterbrochen.
»Hallo, Mami.« Lauras Stimme krächzte. Tränen liefen ihr ohne Unterlass über die Wangen.
Langsam öffneten sich die Augen ihrer Mutter. Als sie endlich ihre Tochter sah, huschte ihr ein Lächeln über das Gesicht. Der schrille Piepton wurde etwas schneller.
»Reg dich nicht auf, Mami, ich bin ja jetzt hier.«
Laura setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Behutsam nahm sie die knochige Hand ihrer Mutter.
»Warum habt ihr mir nicht früher Bescheid gegeben? Ich wär doch sofort gekommen.«
Die Augen der Gräfin lächelten Laura an. Sprechen fiel ihr entsetzlich schwer, dabei hatte sie ihrer Tochter doch noch so viel zu sagen.
»Schön ... das ... du ... endlich ... hier ... bist.«
Nach jedem Wort atmete sie flach und angestrengt.
»Es wird alles wieder werden. Es wird alles wieder gut, Mami.«
Laura versuchte, ihrer Mutter Mut zu machen. Nein! Den Mut benötigte sie. Sie selbst!
Gräfin Ilona von Heimenstein schloss die Augen und schüttelte unmerklich den Kopf. Nach einigen Atemzügen öffnete sie die Augen erneut und sagte sanft: »Du musst ... dich um ... deinen Vater ... kümmern ... Er schafft es ... nicht allein.«
»Natürlich, Mami. Ich kümmere mich um ihn. Ganz sicher. Ich bleibe jetzt hier. Und ich komme auch jeden Tag mindestens zweimal her, um zu sehen, ob du auch alles hast. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Ein kläglicher Versuch, die Realität zu negieren. Er misslang.
Die Gräfin sah Laura an, lächelte wissend und versuchte, ihr die Hand zu drücken, versuchte, ihrer Tochter Mut zu machen. Und wieder holte sie qualvoll Luft, denn es gab noch so viel zu sagen.
»Das Gut ... das Gut ... ist in einem ... tadellosen ... Zustand.«
»Mami, das ist doch jetzt nicht wichtig.«
»Doch ... doch ... mein Kind.« Und wieder schloss die Gräfin die Augen.
»Mami? ... Mami!«
Lauras Stimme überschlug sich beinahe. Sie hatte Angst! Furchtbare Angst!
Die Gräfin öffnete die Augen und sah ihre Tochter zärtlich besorgt an. Laura weinte bitterlich. Tränen tropften auf die Bettdecke der Mutter.
»Wenn du ... Probleme hast, ... wende dich an ... Dr. Berg, ... er ist ... unser Freund.«
»Ja, Mami.«
Laura resignierte, gab nach und nach ihre Gegenwehr auf. Alle ihre Hoffnung schien ihr wie Wasser durch die Finger zu gleiten. Alle Hoffnung schien vergebens.
»Du ... du siehst ... gut aus, ... meine kleine Laura ... Ich liebe dich ... Und ... ich wünsche dir ... viel Glück ... Du wirst ... das alles ... schaffen ... Ganz sicher ... Und vergiss mich ... nicht ... Du ... du hast ... alles richtig ... gemacht ... Ich ... ich bin stolz ... auf dich. Und bitte ... denke ... an ... deinen Vater.«
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