Anschließend musste sie tief durchatmen. Und es schien, als versuchte sie, das Gehörte erst einmal zu begreifen, zu verstehen.
Dr. Berg bedankte sich, und im Moment, als er losgehen wollte, öffnete sich die Tür zum Lager und Laura von Heimenstein kam mit einer Kiste in Händen in den Verkaufsraum.
»Laura, da ist fürstlicher Besuch für dich.«
Eine der Verkäuferinnen rief diesen Satz provozierend und aus vollem Hals quer durch die Abteilung. Noch immer konnte und wollte sie nicht glauben, was sie eben gehört hatte.
Ihre Laura ... eine Komtess?
Unmöglich!
Dieses ›von‹ in Lauras Namen war für die Mitarbeiter schon etwas Besonderes, aber ... ›Komtess‹ war nahezu unbegreiflich, zumal Laura in jeder Hinsicht natürlich war - ohne jegliche Allüren. In den Mittagspausen war sie es, die einen Kaffee aufsetzte. Am Abend, kurz vor Feierabend war sie es auch, die für Ordnung sorgte.
Macht eine Komtess so etwas?
Laura von Heimenstein begriff nicht gleich. Sie schaute erst zu ihrer Kollegin, kopfschüttelnd, fragend, erblickte alsdann Dr. Berg, und sie erschrak, wurde blass im Gesicht.
»Guten Tag, Komtess.« Dr. Berg war erleichtert. Endlich! Er hatte sie gefunden. »Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Laura von Heimenstein konnte nicht sofort antworten, sie musste erst durchatmen. Es schien, als hätte sie geradewegs begriffen, dass das Erscheinen des Anwalts ihrer Eltern keineswegs ein Freundschaftsbesuch sein würde. Es musste etwas passiert sein, ... etwas Schlimmes, schien sie zu ahnen, wie man deutlich ihrem verzagten Blick entnehmen konnte.
»Guten Tag, Herr Dr. Berg.«
Und mit den darauffolgenden Worten schien es, als wollte sie von dem ablenken, das sie nicht hören wollte. »Wie haben Sie mich denn gefunden?«
»Ganz einfach war das nicht. Ist jetzt aber nicht wichtig. Könnte ich Sie irgendwo unter vier Augen sprechen? Das wäre jetzt wichtig?«, fragte er und blickte sie eingehend an.
Laura zögerte einen Moment, schien dennoch sofort zu wissen, dass sie sich diesem Gespräch würde nicht entziehen können.
Sie sah ihre Kolleginnen freundlich auffordernd an. Die verstanden sofort, entfernten sich und verbreiteten diese sensationelle Neuigkeit in Windeseile im Kaufhaus. Unsere Laura ist eine Komtess!, eine echte Komtess!
Als Dr. Berg endlich mit Laura von Heimstein allein war, ging er langsam zu ihr hin und betrachtete sie voll Mitgefühl.
Sie sah bemerkenswert gut aus. Ihr langes blondes Haar trug sie hochgesteckt, wobei eine Strähne absichtsvoll in den Nacken fiel. Die braunen Augen, fieberhaft und beschwörend, hatten nichts von ihrem Glanz verloren, im Gegenteil, es schien ihm, als würden diese Augen die Welt heute mit besonnenem Selbstbewusstsein wahrnehmen.
Offensichtlich hatte diese junge Frau hier ihren Platz gefunden. Es war ihr anzusehen, dass es ihr gutging. Bis jetzt.
Direkt nach dem Abitur hatte sie das elterliche Gut verlassen. Und in den drei Jahren, die sie nun von zu Hause weg war, war aus ihr eine selbstgewisse Frau geworden, eine Frau, die offensichtlich gelernt hatte, mit Schwierigkeiten, die das Schicksal an sie stellte, besonnen fertig zu werden. So schien es zumindest. Dr. Berg hoffte es inständig.
All ihre Lebensplanungen würden sich in den nächsten Augenblicken ändern – leider. Davon war Dr. Berg überzeugt. Rücksicht konnte er jetzt keine nehmen. Die Zeit drängte! Dennoch ging er behutsam vor.
»Leider konnten wir Sie nicht unter Ihrer Mobilnummer erreichen. Aber andererseits ...«
»Ich habe die Nummer schon vor zwei Jahren gewechselt. Meine Mutter ließ mir keine Ruhe. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, denke ich.«
Laura von Heimenstein wirkte plötzlich nervös. Dr. Berg räusperte sich kurz.
»Vielleicht ja doch. Denn ich komme mit einer sehr traurigen Nachricht.«
Er ließ die Worte ein wenig sacken und fuhr beherrscht, dennoch bestimmt fort. »Ihre Mutter liegt im Krankenhaus. Die Ärzte haben kaum noch Hoffnung.«
Betroffen sah Laura Dr. Berg an.
*
Lauras Eltern waren damals, vor drei Jahren, nicht damit einverstanden gewesen, dass sie erst einmal ihren eigenen Weg hatte gehen wollen. Allen Widerständen zum Trotz hatte sie sich dennoch durchgesetzt. Und seitdem war sie ihren Eltern aus dem Weg gegangen, hatte ihnen nicht einmal mitgeteilt, wo sie sich gerade aufhielt. Sie waren nicht böse aufeinander, Lauras Eltern verstanden nur nicht, warum ihre Tochter einen so harten Weg gewählt hatte. Und in jedem Telefonat hatte ihre Mutter sie bedrängt, hatte ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. »Komm endlich nach Hause. Für wen machen wir das hier denn alles? Doch nur für dich«, hatte ihre Mutter bald jedes Mal von sich gegeben.
Einige Tage hatte Laura anschließend stets gebraucht, um ihr Gleichgewicht zurückzubekommen. Bald hatte sie es nicht mehr ausgehalten, und sie hatte sich eine neue Telefonnummer geben lassen. Ein harter Schritt, doch sie hatte ihn gebraucht. Für sich. Für ihr Leben. Sie wollte sich beweisen, dass sie auch ohne das Vermögen und den Titel ihrer Eltern ihren Weg gehen würde. Und das hatte sie geschafft. Eindrucksvoll!
Es hatte damals noch einen zweiten Anlass für ihr ›Verschwinden‹ gegeben, einen Anlass, der ihr Herz schmerzhaft berührt hatte. Damals. Heute nicht mehr. In der Zwischenzeit war er tief in ihrem Inneren vergraben. Und da sollte er bleiben. Für immer.
Glaubte und hoffte sie.
*
»Was ist mit Mama?«
Lauras Frage klang angsterfüllt. Dr. Berg wartete einen kurzen Moment, und er sah Laura dabei einfühlsam an. Er wusste nicht, wie er die Mitteilung um diese schreckliche Krankheit beschreiben sollte, er wollte auch nichts beschönigen.
»Lungenkrebs ... Ihre Mutter hat Lungenkrebs. Im Endstadium.«
Laura sackte zusammen. Äußerlich und auch innerlich, wie es schien. Damit hatte sie ganz sicher nicht gerechnet.
Gräfin von Heimenstein, Lauras Mutter, war Anfang fünfzig, sie war immer aktiv gewesen. In den letzten Jahren, die Laura noch zu Hause verbracht hatte, war ihre Mutter es, die das Gut geleitet hatte. Sie hatte Arbeitsanweisungen gegeben, Termine gemacht - sie hatte die Geschicke des Gutes bestimmt. Allein! Graf von Heimenstein, Lauras Vater, hatte schon damals mehr und mehr unter einer gewissen Vergesslichkeit gelitten. Ein Umstand, der sich sicherlich nicht gebessert haben dürfte.
Dr. Berg sah Laura an und legte ihr rücksichtsvoll die Hand auf den Oberarm.
Er war seit ewigen Zeiten der Anwalt der gräflichen Familie. Er hatte miterlebt, wie sich der Graf und die Gräfin über die Geburt ihres ersten und einzigen Kindes gefreut hatten. Er hatte voller Freude mit angesehen, wie aus dem kleinen Fratz ein junges Mädchen und schließlich ein hübscher Teenager geworden war. Und die Nachricht, die er jetzt überbringen musste, überbracht hatte, tat ihm selbst ausnehmend weh.
»Ihre Mutter würde Sie gerne noch einmal sehen.«
Laura von Heimenstein schüttelte unmerklich den Kopf. Wie es schien, wollte sie das Gehörte nicht wahrhaben, wehrte sie sich gegen die schreckliche Realität. Lungenkrebs! Im Endstadium!
Und sie begann zu zetern. Sinnlos, wie sie selbst zu wissen schien.
»Ich kann hier heute nicht weg. Wir haben morgen eine Lesung und da muss ich noch vieles vorbereiten. ... Übermorgen kann ich kommen.«
Worte, schrill. Voller Ohnmacht.
»Das erste Mal, dass ein namhafter Schriftsteller in diese Kleinstadt kommt. Man erwartete einen reibungslosen Ablauf. Von mir!«
Voll Mitgefühl sah Dr. Berg sie an. Er wusste, ihre Worte entsprachen nicht ihrem Gefühl für ihre Mutter.
Doch die Zeit drängte.
»Ich fürchte, ... übermorgen wird zu spät sein.«
Laura von Heimenstein begann zu zittern.
»Bitte, reden Sie nicht so. Übertreiben sie nicht.«
Читать дальше